nd-aktuell.de / 14.08.2018 / Politik / Seite 8

Stimmung in Großbritannien kippt

Laut Umfragen sind 112 Wahlkreise ins Lager der Brexit-Gegner gewechselt

Ian King, London

Bisher haben nur die Liberalen unter Sir Vince Cable konsequent ein zweites »People’s Vote« zum Brexit verlangt. Doch stellen sie nur zwölf von 650 Unterhausabgeordneten. Einzelne Labour- und Tory-Vertreter wie der Londoner Labour-Parlamentarier Chuka Umunna oder die konservative Ärztin Sarah Wollaston zeigen Sympathie für den zweiten Urnengang, ohne jedoch Eindruck auf ihre jeweilige Parteiführung zu machen. Theresa May und Jeremy Corbyn betrachten Volkes Stimme, die knapp 52 Prozent Brexit-Wähler von 2016, offenbar als Gottesstimme. Doch nun kündete eine aktuelle Umfrage in über 100 Wahlkreisen von tief greifenden Veränderungen.

Danach sind jetzt 53 Prozent für den EU-Verbleib. Waren 2016 nur 229 Wahlkreise mehrheitlich für »Remain« und 403 für »Brexit«, lauten die Vergleichszahlen heute 341 Wahlkreise für den EU-Verbleib und nur noch 288 für den EU-Austritt. 15 000 der vom YouGov-Institut Befragten - und damit zehn Mal mehr als bei Untersuchungen üblich - verlangen den Exit vom Brexit.

Der Umschwung zeigt sich vor allem in Labour-Hochburgen wie Liverpool, Sheffield und Swansea. Dort würden zwischen zwölf und 14 Prozent der einstigen Brexit-Wähler Mays geplanten EU-Austritt jetzt ablehnen, was durch noch rabiater gewordene konservative Brexiter in anderen Landesteilen nicht kompensiert wird. Doch noch zögern May und Oppositionschef Corbyn, aus der Umfrage Konsequenzen zu ziehen.

Bei der Premierministerin ist diese Nicht-Reaktion verständlich. Inzwischen sind drei Viertel der Tory-Anhänger wild entschlossen, den Brexit auf Teufel komm raus umzusetzen. Sie lehnen schon Mays Verhandlungsangebot an die EU-Partner als zu europafreundlich ab - noch bevor es vom Brüsseler Unterhändler Michel Barnier in Bereichen wie Freizügigkeit und freiem Warenverkehr aufgeweicht wird. Jacob Rees-Mogg und die European Research Group wollen den schlanken Unsozialstaat sowie Niedrigsteuern und die schrankenlose Freiheit des Marktes. Nicht Skandinavien, sondern Singapur ist ihr Ideal. Sobald sich May gegen diese Brextremisten in den eigenen Reihen wendet, erzwingen sie einen Kampf um den Parteivorsitz - wobei Austrittsbefürworter wie Ex-Außenminister Boris Johnson beste Chancen hätten, May zu beerben. May bleibt ihre hilflose Geisel.

Bei Corbyn ist die Lage komplizierter. Seine innerparteiliche Position ist viel stärker. Zwei Abstimmungen um den Parteivorsitz hat er mit 60 Prozent der Mitgliederstimmen gewonnen; Aufstände gegen ihn in der Fraktion verpufften kläglich. Die Parlamentswahl von 2017 hat er zwar verloren, aber sich dabei viel besser geschlagen, als von den Meisten erwartet.

Seine Vergesellschaftungspolitik für Bahn, Post und Energieunternehmen wäre durch die Wettbewerbsdogmen der EU gefährdet, deshalb waren Corbyn und Schattenfinanzminister John McDonnell EU-Skeptiker und träumten wohl vom Sozialismus in einem Land. Die grottenschlechten Wirtschaftsperspektiven nach dem Brexit ließen sie dann ohne Begeisterung für den Verbleib stimmen. Aber der Weg zum arbeitsplatzsparenden, verbraucherfreundlichen Wettbewerb, der beiden vorschwebt, gleicht der Quadratur des Kreises.

Wahlkreisdelegierte der Labour Party sowie Mitglieder der linken Momentum-Gruppe, die normalerweise Jeremy Corbyn reflexhaft unterstützen, verlangen inzwischen vor dem EU-Austritt am 30. März 2019 ein erneutes Referendum. Das ist nicht unsere offizielle Politik, mahnt Corbyn zwar, der stattdessen Neuwahlen vorzieht. Aber angesichts der neuen Umfragezahlen sowie des innerparteilichen Widerstandes gegen den EU-Ausstieg könnte eine zweite Volksabstimmung auf dem Labour-Parteitag Ende September zur Parteilinie werden. Nur dann gibt es Chancen, den Brexit zu verhindern und für eine bessere EU von innen zu kämpfen.