nd-aktuell.de / 14.08.2018 / Politik / Seite 20

Die vergessenen Katastrophen

Vietnam beklagt jedes Jahr viele Regenzeitopfer

Bac Pham, Hanoi

Dang Phuc Tai war ein kleiner schmächtiger Mann. Er starb in diesem Sommer, als er in seinem Heimatdorf Nam Muoi im Norden Vietnams, während der Regenzeit zwei Kinder retten wollte. Er schaffte es nicht. Seine Leiche wurde elf Kilometer weiter unten am Fluss gefunden. Jetzt sind zehn Männer damit beschäftigt, seinen Sarg ans Grab zu bringen. Immer wieder versinken sie im Morast. Es ist Knochenarbeit.

Tai ist einer von jetzt schon mehr als hundert Toten in Vietnams diesjähriger Regenzeit. Opfer einer Katastrophe, die immer wieder stattfindet. Leute, von denen man normalerweise nie etwas hört. Wenn in den USA ein Hurrikan über einen Bundesstaat rast, wenn einer von Europas großen Flüssen arg über die Ufer tritt oder auch wenn es hier oder dort eine dramatische Trockenheit gibt, sind das Weltnachrichten. Was in Asien passiert, interessiert kaum jemanden.

In Vietnam dauert die Regenzeit von Juni bis Oktober. Im Durchschnitt der letzten beiden Jahrzehnte wurden jedes Jahr über 400 Menschen durch Tropenstürme getötet. 2017 gab es 16 schwere Taifune. Mindestens 386 Menschen starben, Zehntausende Häuser standen unter Wasser. Geschätzter Schaden: 2,3 Milliarden Euro. Die aktuelle Bilanz für 2018: 112 Tote, und noch ist es früh.

In der Rangliste der weltweit am schlimmsten von Umweltkatastrophen betroffenen Länder liegt Vietnam auf Platz 18. Vietnam hat mehr als 3400 Kilometer Küste. Im Durchschnitt kosten Überschwemmungen, Sturzfluten und Schlammlawinen den Staat mit seinen 95 Millionen Einwohnern jedes Jahr 1,0 bis 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

In diesem Jahr wird befürchtet, dass es noch schlimmer kommt. Ganz unten im Mekongdelta, im Zentrum, aber auch im Norden. Dort oben, in Nam Muoi, wo die Beerdigung jetzt vorbei ist, regnet es infolge des Taifuns Son-Tinh seit Wochen fast ununterbrochen. »Das war der schlimmste Sturm, den ich je gesehen habe«, sagt Ortsvorsteher Ban Thua Phuc. »Die älteren Leute erzählen, dass es solch eine lange Regenzeit in hundert Jahren nicht gab.« Mit drei Toten bislang ist das Dorf halbwegs gut davongekommen. Außerdem wurden 23 Häuser weggeschwemmt, 28 sind schwer beschädigt. Die Straßen sind blockiert. Retter kommen genauso schwer durch wie die Sargträger. »Keine Ahnung, wann wir wieder ein normales Leben führen können«, sagt Phuc. Die Erfahrung lehrt, dass es gegen Ende der Regenzeit, wenn sich der Boden mit Wasser vollgesaugt hat, am schlimmsten wird.

Die Industrialisierung, Abholzung von Regenwäldern, enge Besiedelung - all das trägt zu den Katastrophen bei. Der Chef der nationalen Katastrophenschutzbehörde, Tran Quang Hoai, erklärt, dass die Gemeinden an der Küste in der Regel besser vorbereitet sind als Dörfer in den Bergen - obwohl sie die Wucht der Tropenstürme vom Meer als Erste abbekommen. »Die schlimmsten Katastrophen gibt es durch Sturzfluten und Erdrutsche in den Tagen danach.«

Der oberste Katastrophenschützer erklärt das auch mit mangelnder Kommunikation. »Viele Dorfbewohner sind für mehrere Tage weit von zu Hause weg, weil sie auf den Feldern arbeiten - in abgelegenen Gegenden, wo es keine Fernseher gibt. Deshalb wissen sie nicht, was auf sie zukommt, wenn sie zurückkehren.« Daher arbeiten die Behörden an Aufklärungskampagnen. »Die beste Methode, um den Verlust von Leben sowie Hab und Gut zu vermeiden, ist bessere Information«, betonte Hoai.

Mit neuen Propagandafilmen und -Plakaten ist es nicht getan. Die Leute müssen überzeugt werden. Bei der Katastrophenschutzbehörde ist man fassungslos, wie sich Vietnamesen auch über die ärgsten Warnungen hinwegsetzen. Zu den Toten des Jahres gehört ein Mann, der in der größten Flut auf die Idee kam, Treibholz aus dem Wasser zu sammeln. dpa/nd