Leben auf dem Friedhof

In Schwaben wurde der bundesweit erste Verein gegründet, der sich der biologischen Vielfalt gerade auf städtischen Bestattungsflächen widmet

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt sie noch, die Orte, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen, sogar in den größten Städten der Republik. Auch Reh und Uhu, Eichhörnchen und Habicht, Steinmarder und Igel geben sich hier ein Stelldichein. So etwa auf dem Hauptfriedhof in Kassel in Hessen, dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg oder dem evangelischen Friedhof im niedersächsischen Worpswede.

In Leipzig hat der NABU-Arbeitskreis »Vogelschutz in der Stadt« inzwischen sogar einen besonderen Tätigkeitsschwerpunkt auf einem halben Dutzend Friedhöfe - mit einem recht originellen Projektnamen: »Lebendige Friedhöfe«. Die Mitglieder setzen sich für naturnahe Refugien zwischen den Grabsteinen ein, in-stallieren Nisthilfen, führen bei jährlichen Brutvogelerfassungen Buch über einzelnen Arten - und belegen etwa steigende Bestände bei Kleiber, Zilpzalp oder Mönchsgrasmücke.

Nicht allen gefällt eine zunehmende Wildtierdichte zwischen den Gräberreihen, etwa wenn ein Dachs eine Grabplatte aushebelt oder Wildschweine eine Aschestreuwiese für anonym Bestattete umpflügen. »Große Friedhöfe wirken auf Wildtiere eben wie Naturoasen«, sagt Andreas Kinser, Referent für Jagd- und Forstpolitik bei der Deutschen Wildtier-Stiftung in Hamburg. Und dies erst recht ab November, wenn überall im Freien das Futter knapp werde: Dann knabbere man als Reh »doch lieber am frischen Blumen-Büfett«.

Doch es scheint, dass immer mehr Zeitgenossen in einer Art Güterabwägung diese tierischen Kostgänger tolerieren - zugunsten einer damit wachsenden biologischen Vielfalt auf den Grünflächen der städtischen Friedhöfe. Wie sehr solche Biodiversität inzwischen im Zeitgeist liegt, belegt ein interdisziplinäres Projekt der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, mit dem die überraschende Vitalität von Flora und Fauna auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee erhellt wurde. So entdeckte man hier allein 363 wild wachsende Gefäßpflanzenarten.

Experten der TU Berlin entwickelten in diesem Zusammenhang artgerechte Ziele, die für die rund 32 000 Friedhöfe in Deutschland beispielgebend sein sollen. Hierzu unterschieden sie auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee zwischen Vögeln, Fledermäusen, Spinnentieren, Laufkäfern sowie Moosen, Flechten und Gefäßpflanzen, um jede dieser Gruppen bei Pflege- und Instandhaltungsarbeiten besser berücksichtigen zu können. Im Rahmen der UN-Dekade für biologische Vielfalt, zu der die Jahre 2011 bis 2020 erklärt wurden, bekam das Projekt im Februar dieses Jahres eine Auszeichnung.

Ganz besondere Brutgäste nisteten sich indes auf dem Friedhof im schwäbischen Kirchheim unter Teck ein: Auf zwei Kiefern ziehen mehrere Graureiher ihre Jungen groß. »Wie schön, dass es sie eben noch gibt, die Nischen ohne Glyphosat und Kunstdünger«, sagt sich Heinecke Werner, der kürzlich in der Mittelstadt bei Stuttgart einen bisher einzigartigen Verein gründete: Er nennt sich Biodiversität auf Friedhöfen e. V. Der promovierte Volkswirt und Soziologe will damit bundesweit ein Zeichen setzen und gewann auch schon Mitglieder von der Nordsee bis Bayern. »Die Entdeckungs- und Gestaltungsfreude auf unseren Friedhöfen hat gerade erst begonnen - und sie verspricht Buntes und Vielfältiges«, so Werner, der sich beruflich als Geschäftsführer einer Zertifizierungsorganisation auch für Sozialstandards sowie gegen Kinderarbeit in asiatischen Steinbrüchen engagiert.

Um schnell eine gewisse Schlagkraft zu erreichen, bemüht sich der neue Verein nicht nur um den Schulterschluss mit Umweltverbänden, Ornithologen und Insektenfreunden, sondern auch mit Gärtnern oder Steinmetzen - Gewerken also, in denen man naturgemäß die Friedhöfe der jeweiligen Region gut kennt und zugleich an deren nachhaltiger Gestaltung interessiert ist. So fördert inzwischen auch der Bund Deutscher Friedhofsgärtner mit der Initiative NaturRuh den Artenreichtum auf den Gottesäckern. Immerhin könnten mit dem, was »ein traditioneller städtischer Friedhof gerade im Kontext einer sichtlich verarmenden Fauna und Flora an biologischer Vielfalt zu bieten hat, die schlichten Stämme in einem Urnenbestattungswald auf dem Lande nicht mithalten«, erklärt der Vereinschef.

Für die Planung und Durchführung lokaler Initiativen zur Biodiversität empfiehlt Werner zunächst die biologische Kartierung von Friedhöfen samt der ihnen benachbarten Habitate. Zugleich sollten als Erstes an geeigneten Stellen Nistkästen angebracht, Insektenhotels und Vogeltränken aufgestellt sowie Rasenflächen durch Blumenmischungen aufgewertet werden. Und er hängt die Messlatte sehr hoch, wenn er sagt: »Friedhöfe haben letztlich das Potenzial, biologische Exzellenzflächen in unseren bedrohten Landschaften zu sein.«

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