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»Das war für uns danach ein anderes Land«

Mit einem wilden Streik bei den Kölner Fordwerken wurden Gastarbeiter im August 1973 erstmals sichtbar zu Akteuren

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn man mit Peter Bach - 70 Jahre, ehemaliger Ford-Arbeiter - über den »großen Streik« von 1973 reden will, geht es erst einmal um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Dieser hatte 2004 ein Nagelbomben-Attentat in der Kölner Keupstraße verübt. Das Attentat, da ist sich Bach sicher, richtete sich gezielt gegen die Straße als erfolgreiche migrantische Wirtschaftszone. Und dass sie das in den 70er und 80er Jahren werden konnte, sei, so Bach, auch eine Folge des berühmten Streiks bei den Kölner Fordwerken gewesen.

Diese Verbindung zieht Mitat Özdemir ebenfalls. Der heute über 70-jährige Rentner war wie Bach einst Arbeiter bei Ford - und später einer der Gründer der Initiative »Keupstraße ist überall«, die die Betroffenen des NSU-Anschlags unterstützt. Özdemir war zudem acht Jahre lang Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße e. V. Er selbst hatte dort nämlich 1986 sein erstes Geschäft eröffnet.

Und ja, ohne den Ford-Streik wäre es dazu vielleicht nie gekommen. »Der Streik war für mich ein Wendepunkt«, sagt Özdemir. Er war 1966 als junger Mann aus der Türkei nach Westdeutschland gekommen, direkt ans Fließband bei Ford in Köln-Niehl. 1972 wechselte er wegen seiner guten Deutschkenntnisse zum Jugendsozialwerk und arbeitete als Sozialbetreuer und Übersetzer in jenen Wohnheimen, in denen Gastarbeiter von Ford und anderen Großbetrieben lebten - separiert und isoliert von den deutschen Arbeitnehmern. »Bis zum August 1973 hatte ich das Gefühl, in diesem Land nichts zu sagen zu haben, nur arbeiten zu dürfen. Ich habe nie Widerspruch erhoben, sondern alles so hingenommen, wie es mir angeboten wurde«, sagt er.

Dann kam es zu dem sechstägigen Ausstand, der sich am 24. August 1973, an einem Freitag, spontan entwickelt und in kurzer Zeit über das gesamte Werk verbreitet hatte, und der am 30. August gewaltsam durch die Polizei beendet wurde. Dies geschah mit Unterstützung der Arbeitnehmervertretungen, die sich für die Belange migrantischer Kollegen wenig interessierten und deren radikale Aktion ablehnten. Die »Bild« machte daraus die Schlagzeile »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«.

Trotz des gewaltsamen Endes und der Kündigungen, mit denen einige der Streikenden bestraft wurden, finden sowohl Peter Bach als auch Mitat Özdemir, dass der Arbeitskampf ein Erfolg war. Er habe gelernt, dass »man auch als Türke in Deutschland den Mund aufmachen kann«, sagt Özdemir heute. »Für die deutschen Kollegen war es vielleicht normal, auch mal den Mund aufzumachen. Für uns nicht. Für mich hatte sich durch den Streik die Welt verändert, Deutschland war für uns danach ein anderes Land als vorher. Deswegen war der Streik für mich ein großes Ereignis.«

Das war er auch für die Öffentlichkeit: Nicht allein, weil es ein »wilder«, spontaner Streik war - davon gab es im Jahr 1973 viele. Sondern vor allem, weil es der erste von türkeistämmigen Kollegen geführte Arbeitskampf war, der es auch in die überregionale Presse schaffte. Diese ließ zwar wenig Sympathien mit der Aktion durchblicken - von »Türkenterror« war die Rede, der Kölner »Express« fragte: »Übernehmen Gastarbeiter die Macht?« Doch bewirkte der Ford-Streik auch eine Debatte über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Gastarbeitern, die fast immer in den untersten Lohngruppen eingestuft waren, die schwersten Arbeiten am Band verrichteten, segregiert lebten - und deren Forderungen nach längerem Sommerurlaub zunächst kein Gehör gefunden hatten.

Dies war der eigentliche Auslöser der Auseinandersetzung: Ford-Personalchef Horst Bergemann wollte mehrere Hundert Arbeiter entlassen, die verspätet aus den Sommerferien ans Fließband zurückgekehrt waren. Das war eine übliche Praxis: Die Fahrt in die Türkei und zurück dauerte mehrere Tage. Um das bewerkstelligen zu können, wurde oft auf eigene Faust der Jahresurlaub verlängert. Weil das Thema Urlaub bereits zu Streit mit dem Management geführt hatte und die von den Kollegen vorgeschlagene Neuregelung abgelehnt worden war, kehrten 1973 besonders viele verspätet nach Köln zurück, mehr als in den Vorjahren. Bergemann wollte durchgreifen, doch er hatte die Rechnung ohne die Kollegen gemacht. »Der Türke braucht Autorität. Er ist das von zu Hause aus so gewohnt«, schrieb der Manager noch kurz vor Ausbruch des Streiks. Es hatte sich allerdings so viel Wut angestaut, dass am 24. August vor allem die türkeistämmigen Beschäftigten die Arbeit niederlegten, statt sich - wie Bergemann erwartet hatte - zu fügen. Die Forderungen der Streikenden lauteten: Wiedereinstellung der entlassenen Kollegen, Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit, Erhöhung des Stundenlohns, mehr Urlaub. Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung scheiterten, was wiederum zur Einsetzung einer selbst gewählten Streikleitung führte.

Mitat Özdemir erfuhr in dem Wohnheim, in dem er arbeitete, von dem Streik. »Als Sozialbetreuer hatte ich zunächst die Aufgabe, alles ruhig zu halten, der Streik sollte nicht in die Heime weitergetragen werden, so wurde es uns gesagt.« Viele kamen aber gar nicht mehr, es wurde im Werk übernachtet. Und diejenigen, die doch ins Heim kamen, berichteten von dem, was in den Werkshallen passierte. »Ich habe gefragt: Warum Streik? Die Antwort war: Man hat immer mehr verlangt von uns, und wenn wir es dann erfüllt haben, noch mehr. Wir können nicht so weitermachen.« Als er dann selbst vor Ort war, sei er beeindruckt gewesen von dem Arbeiter, der mit dem Megafon herumlief und immerzu »Streik, Streik« rief, erinnert sich Özdemir. »Ihn habe ich mir innerlich zum Vorbild genommen.«

Für Betriebsrat und IG Metall waren die Anführer des wilden Streiks hingegen »Extremisten«. Bei Ford zeigte sich in diesen Augusttagen deutlich, dass die Arbeitnehmervertretungen es versäumt hatten, Gastarbeiter mit ihren Anliegen ernst zu nehmen. In den Jahren zuvor waren migrantische Kollegen aktiv von der Repräsentation zum Beispiel im Betriebsrat ferngehalten worden. Das änderte sich nach Streikende langsam, vor allem weil die Betroffenen nun selbstbewusster ihren Platz einforderten. Gleichzeitig setzte bei einigen in der IG Metall ein Sinneswandel ein: So verlangte der erste Bevollmächtigte aus Köln, Günter Tolusch, die Einsetzung von Schwerpunktsekretären für »ausländische Beschäftigte« - auch aus anderen Teilen der Gewerkschaft wurde dies an den Bundesvorstand herangetragen. Bis aus dessen Sicht Gastarbeiter tatsächlich Kollegen wurden, dauerte es noch einige Jahre, doch hatte sich 1973 etwas in Bewegung gesetzt.

Kurze Zeit nach dem Streik bei Ford beschloss die Bundesregierung im November 1973 den Anwerbestopp für Gastarbeiter. Der Wirtschaftsboom war zu Ende, die Ölkrise schlug ein. Viele der angeworbenen Beschäftigten verloren ihre Jobs, Maßnahmen wurden ergriffen, um sie wieder loszuwerden. Der Höhepunkt waren Helmut Kohls »Rückkehrprämien« in den 80er Jahren. »Viele sind ja auch gegangen«, sagt Mitat Özdemir. »Aber denen, die geblieben sind, hat die Erfahrung Ford-Streik geholfen, sich niederzulassen.« Als die Arbeitslosigkeit stieg, stieg die Zahl der Gewerbegründungen durch Migranten. Auch in der Keupstraße eröffneten in den 70ern und 80ern viele Läden.

Inzwischen hat die Straße sich wieder verändert und mit dem Ruf als »Arbeiterstrich« zu kämpfen, auf dem sich Tagelöhner aus Osteuropa anbieten. Und es stellt sich eine Frage von 1973 erneut: Wer setzt sich ein für diese Arbeiter, wer organisiert sie? Bei den neuen Zuwanderern tun sich die Gewerkschaften wieder schwer, findet Peter Bach. Ähnlich wie 1973, als die Kollegen bei Ford es selbst in die Hand nehmen mussten, klarzustellen: Auch wir können kämpfen, auch wir dürfen Forderungen stellen.

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