nd-aktuell.de / 01.09.2018 / Kultur / Seite 18

Momentaufnahmen

Eine Ausstellung in Hamburg würdigt die in einer Krise befindliche Straßenfotografie.

Frank Schirrmeister

Straßenfotografie ist eigentlich eine etwas unglückliche Bezeichnung für eine Disziplin, die so viel mehr Facetten umfasst und eine Menge Interpretationsspielraum lässt. Die Vielfalt der Herangehensweisen auf das Wort »Straße« zu reduzieren, wird dem Genre nicht gerecht, zumal man mit diesem Begriff gerne etwas Unbehagliches, Schmuddeliges, Billiges assoziiert. Wahrscheinlich ist der ebenfalls häufig verwendete Begriff »Life Photography« deshalb auch angemessener.

Die Hamburger Deichtorhallen widmen dem Thema, egal, wie man es nennen mag, nun eine große Schau, um diese Kunstform umfassend zu würdigen. Unabhängig von oben erwähnter Konnotation des Begriffs muss man allerdings konstatieren, dass die Straßenfotografie als künstlerisches Genre in der Fotoszene heute einiges an Reputation verloren hat. Mit diesem Verdikt die Rezension einer Ausstellung über »Street Photography aus sieben Jahrzehnten« einzuleiten, ist einigermaßen gewagt und muss daher begründet werden, zumal es auch Gegenstimmen gibt wie den Verleger Christoph Schaden, der in einem Text im Ausstellungskatalog die gloriose Rückkehr dieser fotografischen Disziplin verkündet und ihr gleich noch eine evident politische Funktion zuschreibt.

Die Fotografie ist eine der Künste, die sich bei Kreativ-sein-Wollenden anhaltender Beliebtheit erfreut, was der Andrang bei staatlichen Kunstschulen und die Gründung zahlreicher privater Fotoschulen in den letzten Jahren bezeugen. Das hat zum einen mit der Bedeutung von Bildern zu tun, die heute unseren Alltag durchdringen und prägen, sicherlich aber auch viel mit dem niedrigschwelligen Zugang zur Technik, der sich durch die Digitalisierung nochmals vereinfacht hat. Musste man früher schwere (und teure) Kameras durch die Gegend schleppen, Ahnung von Filmen und fotochemischen Prozessen haben und lange Nächte in der Dunkelkammer verbringen, reicht es heute aus, sich eine einigermaßen wertige Kamera zu besorgen - und schon ist man »Fotograf«.

Im Gegensatz zu Malern oder Bildhauern, deren Arbeitsgrundlage die handwerkliche Beherrschung ihres Metiers ist, kann auf den Auslöser einer Kamera praktisch jeder drücken. Den Rest erledigt die Technik - vermeintlich. In Nullkommanix kann der interessierte Novize hinaus auf die Straße - die Bühne des Alltagslebens - gehen und seine Bilder machen. Nicht viele haben jedoch ein so präzises Gespür für den richtigen Augenblick wie Henri Cartier-Bresson, sind Naturtalente wie die vor einigen Jahren erst posthum entdeckte Vivian Maier oder haben die Chuzpe eines Martin Parr, um willkürlich drei Vertreter ihres Faches herauszugreifen. Das führt dazu, dass die Welt überschwemmt wird mit Bildern, die alle irgendwie Straßenfotografie sind, allzu häufig aber nur Belangloses offenbaren. Sprechen wir es ruhig aus. Gerade in der Straßenfotografie gibt es allein durch die Fülle an Beteiligten viel Mittelmaß, und in diesem Genre zu reüssieren, erfordert Talent, einen außergewöhnlichen Blick und langen Atem, bis die Bilder dereinst den Test der Zeit bestanden haben.

Heute tummeln sich unzählbare Akteure auf einem Markt, der eigentlich keiner ist, weder in künstlerischer noch wirtschaftlicher Hinsicht. Kommerzielle Galeristen und Sammler fassen Straßenfotografie in der Regel nur mit spitzen Fingern an, es sei denn, es handelt sich um ältere, gut abgehangene Ware und/oder einen berühmten Fotografen. Dadurch ist sie für den Kunstmarkt weitgehend irrelevant. Diesen Personenkreis verlangt es eher nach der großen Geste der Inszenierung oder dem konzeptionellen, mehr der Bildenden Kunst zuzuordnenden Tableau. Straßenfotografie ist für sie zu ordinär, hat leichten Mundgeruch und ist schlicht zu wenig Kunst. Aber auch die Verwertung in Form von Veröffentlichungen in Magazinen, Zeitschriften etc. stößt zunehmend auf Schwierigkeiten. Hier sind wir beim zweiten elementaren Aspekt der Krise der Straßenfotografie. Die anhaltende Debatte über das Recht am eigenen Bild hat für das Fotografieren im öffentlichen Raum verheerende Auswirkungen, so dass manche bereits vom Tod des Genres sprechen. Innerhalb der letzten ungefähr zwanzig Jahre haben sich die Bedingungen für die klassische Straßenfotografie dramatisch verschlechtert. Misstrauen ist heute allgegenwärtig, sobald jemand auf der Straße eine professionell aussehende Kamera hebt. Das hat tiefgreifende Konsequenzen und bedeutet letztlich das Verschwinden einer europäischen, lange tradierten Kultur von Öffentlichkeit. Die Ursachen für dieses Misstrauen der Kamera gegenüber sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund ist die Angst vor dem Kontrollverlust. In einer Gesellschaft, die vom Zwang zur Selbstoptimierung und -vermarktung geprägt ist und die das mit anderen konkurrierende Individuum als höchste Form der Existenz preist, ist es logische Folge, dass man versucht, das veröffentlichte Bild von sich zu kontrollieren, um keinen Wettbewerbsnachteil zu erfahren. Die Möglichkeit, Daten unbegrenzt zu vervielfältigen und in sozialen Netzwerken zu teilen, verstärkt den Generalverdacht gegen die Fotografie. Zu stark ist die Angst vor dem Missbrauch, als dass der aufgeklärte Citoyen sich noch unbefangen in der (digitalen) Öffentlichkeit bewegen könnte.

In der Vergangenheit hat die Rechtsprechung das Recht am eigenen Bild sukzessive immer stärker zum Nachteil der Kunstfreiheit gewichtet, so dass das Fotografieren im öffentlichen Raum und das Beobachten von Menschen mit der Kamera zu einem Balanceakt geworden sind, der heute schnell in eine Abmahnung oder gar in ein Gerichtsverfahren münden kann. Das führt dazu, dass sich professionelle Fotografen zunehmend von dieser Form der Fotografie abwenden oder ihr Heil in reinem Formalismus suchen, wo nicht mehr der Mensch, sondern das grafische und ornamentale Beziehungsgefüge auf der Straße im Mittelpunkt steht. Andere fotografieren so, dass keine Gesichter zu erkennen sind. Kann man machen, tatsächlich ist hier aber ein Verlust zu beklagen, der zu der Frage führt, welche Bilder wir eigentlich den Nachgeborenen von unserer heutigen Welt hinterlassen und wie wir uns später erinnern wollen? Die Straßenfotografie als Kulturerbe wird zum Opfer zunehmender Freiheitsfeindlichkeit in unserer Gesellschaft.

Natürlich gibt es immer noch Fotografen, die sich keinen Deut um irgendwelche Rechtslagen scheren und die Bilder machen, die sie im Kopf haben. Ob sie diese dann auch veröffentlichen und ausstellen können, ist eine andere Frage.

Allem oben gesagten zum Trotz: Beim Publikum und bei Kuratoren ist die Straßenfotografie nach wie vor sehr beliebt. Das hat sicher damit zu tun, dass diese Art Fotografie im Gegensatz zu vielen entleerten Konzept-Kunst-Assoziations-Eitelkeiten gut rezipierbar ist und dem Betrachter wirklich etwas über sein oder das Leben anderer erzählt. Deshalb wird auch die Ausstellung »Street.Life.Photography - Street Photography aus sieben Jahrzehnten« nicht über Besuchermangel klagen müssen, zumal sie einige Entdeckungen bietet. Diese beginnen schon bei der Auswahl der Fotografen. Die Kuratorin Sabine Schnakenberg hat sich erkennbar bemüht, nicht den üblichen Kanon abzuspulen, sondern auch unbekanntere Künstler zu präsentieren und Grenzüberschreitungen zu wagen. Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es, die lineare oder monografische Erzählweise aufzubrechen und neue, bisher noch nicht gesehene Bezüge aufzuzeigen. Grundstock für die Präsentation waren die Bestände der Sammlung F.C. Gundlach sowie der Sammlung Falckenberg, beides Dauerleihgaben des Hauses der Photographie in den Deichtorhallen. Gezeigt werden über 320 Werke von 52 Fotografinnen und Fotografen. Weniger wäre indes womöglich mehr gewesen, einige Bildkünstler sind nur mit einem oder zwei Fotografien vertreten, was wenig Gelegenheit bietet, sich tiefer mit deren Werk zu beschäftigen, so dass der Erkenntnisgewinn gering bleibt. Allerdings entspricht diese Herangehensweise eben genau der Absicht, statt Werkgruppen einzelner Fotografen auszustellen lieber Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sichtweisen und zeitlichen Perioden zu erzeugen, und da muss dann auch mal ein Foto ausreichen.

Trotzdem wirkt die Ausstellung durch die Fülle an Namen, die auftauchen, etwas überladen. Viele Klassiker sind dann doch dabei, Diane Arbus, Robert Frank, Bruce Gilden, Joel Meyerowitz, Lee Friedländer und William Klein, aber auch einige zumindest für den Laien unbekanntere junge internationale Fotokünstler. Die parallele Präsentation historischer und zeitgenössischer Arbeiten soll eine Korrespondenz über die Zeitläufte hinweg ermöglichen und ästhetische Entwicklungen verdeutlichen. Ob das gelungen ist, muss der Betrachter für sich selbst entscheiden, sehenswert ist diese Zusammenstellung unterschiedlichster fotografischer Handschriften allemal. Um wenigstens etwas Struktur in die Verschiedenartigkeit der Sujets zu bekommen, ist die Ausstellung in sieben Themengruppen unterteilt, die jeweils Aspekte wie Leben auf der Straße, städtischer Raum, öffentlicher Nahverkehr oder Anonymität der Großstadt aufgreifen.

Auch wenn das Bemühen, neue Sichtweisen zu etablieren, unverkennbar und ehrenwert ist, bleibt es doch bedauerlich, dass es nicht gelungen ist (und offenbar auch nicht beabsichtigt war), den herkömmlichen westzentrierten Fotografen- und Bilderkanon zu erweitern und auch Vertreter jenseits des transatlantischen Kulturraumes mit in die Auswahl aufzunehmen. Dass unter den zahlreichen deutschen Fotografen in der Ausstellung kein einziger Ostdeutscher ist, hat man gelernt, achselzuckend hinzunehmen. Wenn aber Entwicklungslinien der Straßenfotografie über sieben Jahrzehnte aufgezeigt werden sollen, ist es nur schwer verständlich, weshalb die Kuratorin ihren Anspruch, den herkömmlichen Kanon zu erweitern, dann doch nicht so ernst genommen und beispielsweise mal gen Osten geblickt hat.

Zweifellos ist die Geschichte der dokumentarischen und Alltagsfotografie sehr amerikanisch geprägt. Und doch: Gerade in der Sowjetunion spielten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ästhetische Entwicklungen ab, die mit ihrer Bildgewalt stilbildend für Generationen von Künstlern und Fotografen waren und die Richtung mitbestimmten, in die sich die moderne Fotografie entwickelte. Im Wechselspiel der Kulturen und Gesellschaftssysteme wären mit Sicherheit aufregende Entdeckungen zu machen gewesen. Diese Aufgabe bleibt der nächsten Überblicksausstellung zum Thema vorbehalten.

Ausstellung

Die Ausstellung »Street.Life.Photography – Street Photography aus sieben Jahrzehnten« läuft bis zum 21. Oktober im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen.
Zur Ausstellung ist ein Katalog im Kehrer Verlag erschienen, mit Texten von Christoph Schaden und Sabine Schnakenberg, 244 S., 49,90 Euro.