nd-aktuell.de / 01.09.2018 / Politik / Seite 4

Schützenhilfe für Flüchtlingsfeinde

Unterlassene Abschiebung bietet nun Gelegenheit, zu konzertierter Kritik an einer angeblich zu laschen Ausländerpolitik überzugehen

Uwe Kalbe

Eine Abschiebung des 22-jährigen Irakers, der am Rande eines Stadtfestes einen Deutschen niedergestochen haben soll und damit zum Anlass der rechten Aufmärsche in Chemnitz wurde, wäre 2016 zulässig gewesen, teilte das Verwaltungsgericht am Freitag mit. Dies geschah jedoch nicht, bis nach Ablauf von sechs Monaten Deutschland das Asylverfahren übernahm. Damit erhält die Debatte eine neue Richtung; nun geht es plötzlich erneut um mögliche Versäumnisse bei einem Abschiebungsverfahren. Die Vorwürfe folgen der Argumentation der rechten Demonstranten, ihre Empörung sei von einer zu laschen Ausländerpolitik der deutschen Behörden verursacht.

Medienberichten zufolge hätte der Iraker im Jahr 2016 abgeschoben werden können, weil er bereits in Bulgarien einen Asylantrag gestellt hatte. Hier galt die Dublin-Verordnung, nach der Asylverfahren in der Regel dort abgewickelt werden, wo ein Asylbewerber EU-Gebiet erreichte. Es ist jedoch verfehlt, automatisch von einem Versäumnis zu sprechen, wenn eine Abschiebung nicht vollzogen wird. Es ist den Behörden schlicht nicht möglich vorauszusehen, wie sich ein Mensch in einigen Monaten verhalten wird, ob er stehlen oder sich danebenbenehmen wird oder ob er gar jemanden erschlagen wird. In den meisten Fällen geschieht das bekanntlich nicht.

Die größte Zahl der »Dublin-Fälle« wird nach Ungarn, Bulgarien, Griechenland oder Italien abgeschoben. Allerdings unterbinden Verwaltungsgerichte in Eilverfahren häufig die Abschiebung. Bei jeder vierten Entscheidung über geplante Abschiebungen nach Italien erhalten die Kläger in letzter Minute recht. Abschiebungen nach Bulgarien werden in über zwei Dritteln aller Entscheidungen gestoppt, wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl in Erinnerung ruft. Und dies geschehe aus guten Gründen, so Pro Asyl. Aus Ungarn oder Bulgarien berichten Betroffene oft von willkürlichen Inhaftierungen oder gar Misshandlungen. Im Falle des Irakers entschied ein Gericht, dass eine Abschiebung rechtens sei.

Warum er nicht abgeschoben wurde, wird nun sicher untersucht. Doch den Einzelfall zu überhöhen, verführt dazu, die Mängel des Systems zu übersehen. In den EU-Staaten wird die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen sehr unterschiedlich bewertet. Pro Asyl spricht davon, dass Asyl in Europa eher einer Lotterie gleiche als es gewissenhafter Prüfung von Schutzgründen folge. 2016 erhielten in Italien 97 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge Schutz, in Bulgarien nur 2,5 Prozent, wie Pro Asyl unter Berufung auf AIDA, die Datenbank der paneuropäischen Flüchtlingshilfeorganisation ECRE anführt.

Flüchtlinge haben also gute Gründe, sich gegen die Abschiebung in einen der überforderten Außenrandstaaten der EU zu wehren, wo mangelnde Kapazitäten und eine Abschreckung und Vergrämung Flüchtlinge abschrecken. Ihnen hilft vielfach das Eintrittsrecht von Staaten wie Deutschland in das Asylverfahren - nach sechs Monaten Aufenthalt. So ist es auch im Falle des Irakers in Chemnitz geschehen. Das Asylverfahren allerdings endete mit einer Ablehnung. Eine weitere Klage des 22-Jährigen hatte dann Erfolg, weil das Bundesamt BAMF die Ablehnung offenbar mangelhaft begründet hatte.

Das Verbrechen eines 22-Jährigen kann aber kein Grund sein, Lösungen im Dublin-System zu suchen. Knapp 40 000 Mal nahm Deutschland im letzten Jahr sein Selbsteintrittsrecht wahr und verzichtete auf eine Dublin-Abschiebung. Zugleich ersuchte Deutschland 64 267 Mal um Zustimmung zu Abschiebungen. Die angefragten Länder stimmten knapp 47 000 Ersuchen zu. Doch nur zu 7102 Überstellungen kam es. Gleichzeitig gab es knapp 27 000 Übernahmeersuchen anderer Mitgliedsstaaten an Deutschland. 80 Prozent der Ersuchen wurde zugestimmt, 8754 Überstellungen gab es. 2017 kam es damit zu rund 90 000 aufwändigen und kostspieligen Verfahren allein mit deutscher Beteiligung, so Pro Asyl. Der minimale Effekt spricht eher dafür, das Hin- und Herschieben von Flüchtlingen zu beenden, als jedem Einzelfall nachzuspüren. Selbst wenn er in eine Tragödie mündete.