nd-aktuell.de / 07.09.2018 / Kultur / Seite 15

Traurigsein als nationale Idee

Folk aus Russland

Ewgeniy Kasakow

Wenn die St. Petersburger Band Affinage erwähnt wird, was in diesem Jahr in Russland häufig geschieht, fallen zur Beschreibung ihrer Musikdarbietungen meist Stichworte wie »authentisch« und »sehr russisch«. Dabei lässt sich schwer sagen, was genau dem 2012 gegründeten Quartett um den dreißigjährigen Michail »Em« Kalinin den Ruf verschafft hat, besonderes »in der russischen Tradition verwurzelt« zu sein. Der Einsatz eines Akkordeons, das neben Posaune, Akustik- und Bassgitarre die musikalische Grundausstattung der Band darstellt, reicht wohl kaum als Erklärung aus. Die urbane Musik von Affinage, die die Band selbst als »Noir-Chanson« bezeichnet, würde im Westen wohl kaum jemand als spezifisch russisch identifizieren. In den Texten sucht man ebenfalls vergeblich nach positiven Bezügen auf »nationale Identität« und »Patriotismus«. Eher handelt es sich hier um melancholische Gesänge trauriger Männer, die an das Genre Dark Folk erinnern.

Dennoch, spätestens seit ihrem 2015 erschienenen zweiten Album »Russkije pesni« gelten Affinage als ein Beispiel für jene vermeintlich tiefsinnige Alternativmusik, die den westlichen Pendants nicht nacheifert, aber qualitativ mit ihnen mithalten kann. Der Sound ist glatt, aber die traditionelle Textlastigkeit des Russkij-Rock, der eher durch seine lyrischen als durch seine musikalischen Ambitionen bestach, wird von der Band liebevoll erhalten. Dennoch, die Verwandtschaft zu westlichen Folkbands wie beispielsweise Murzik aus Minneapolis ist kaum zu überhören.

Das aktuelle, aus zwei Teilen bestehende Album heißt »Zoloto«. Der zweite Teil belegte in Mai den zweiten Platz in den russischen Google-Play-Charts. Die Kritik lobt die Band überschwänglich.

Vergeblich jedoch versucht man aus den Musikern politische Stellungnahmen herauszukitzeln. Während dieses Jahr etliche Künstler das Alternativmusik-Festival Naschestwie wegen der Kooperation der Veranstalter mit dem russischen Verteidigungsministerium boykottierten, spielten Affinage dort zum zweiten Mal, wo sie auf der Hauptbühne neben der alten Garde des russischen Rock spielen durften. Auf Nachfrage rechtfertigte sich die Band mit dem Hinweis, über Alkoholwerbung auf Musikfestivals empöre sich ja schließlich auch keiner, obwohl der Alkohol doch Menschen umbringe. Ansonsten verweist Kalinin gern auf seine Inkompetenz in politischen Fragen.

Gewiss gehört Affinage nicht zu den rebellischsten Musikprojekten im heutigen Russland. Anscheinend hat die Band eine Form der »Russischkeit« gefunden, die über die Grenzen der politischen Lager hinweg akzeptiert wird. Traurigsein als nationale Idee sozusagen.

Affinage: »Zoloto«