nd-aktuell.de / 10.09.2018 / Kultur / Seite 15

Kammer-Gericht

Goethes »Faust I« am Theater der Altmark Stendal

Hans-Dieter Schütt

Kann man alles falsch machen? Ist es gefährlich, ständig von einem anderen Leben zu träumen? Zu wie viel Prozent bin ich ein Tier? Soll ich mich gehen lassen? Soll ich alles zusammenschlagen? Soll ich die Welt mit Nichtachtung strafen? Warum weiß ich immer alles besser? Ist der Teufel zufrieden mit mir? Erledigt sich alles wie von selbst? Herrscht tiefer Frieden in meiner Wohnung, wenn ich nicht da bin? Wäre ich gern rätselhafter?

Sind so Fragen. Andauernd wollen wir wissen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« - und scheitern schon an der eigenen Beschaffenheit. Es ist leichter, an tausend Stellen zugleich zu sein als ganz bei sich selbst. Alle Philosophie und Politik ruft »Licht!« und erfindet nur immer Blendung. Man bläst beflissen und ehrgeizig zur Sammlung, heraus kommen Sammelsurien. Goethes »Faust«? Eine bittere Reise-Erzählung: Was wir suchen, macht unseren Glanz aus (die Utopie); was wir finden, ist unser Elend (der Pragmatismus).

Es ist ein zerdroschenes Stück Literatur. Der suchende Gelehrte als Herr Mustermann für Aufklärung, Wissen und Neugier. Das hat man doch inzwischen etwas satt, dieses ideengeschichtlich Überlieferte, dieses Abgestandene der toten Lehrmeister, dieses Erzieherische der Kritikaster, diese Moralprotzerei des politisch Oppositionellen. Aufklärung! Ließ sie den Geschichtslauf klarer werden? Wissen! Machte es die Welt weiser? Neugier! Zeugt sie nicht auch Reichtümer, daran sich uralte Gier mästet? Ehrfurcht vor dem Leben heißt mitunter auch: freiwilliges Erkenntnisverbot.

Am Theater der Altmark Stendal inszenierte Alexander Netschajew den ersten Teil der Tragödie. Aber: Der Himmelhöllen-Weltkreis wird nicht auf großer Bühne ausgeschritten und durchtobt, er ist gezwängt ins Kleine Haus. Absichtsvoll, konzentrationsbewusst, die anregende, anziehend gespielte Aufführung vollendet sich wahrlich im - Kammer-Spiel. Dort, wo Gretchen lebt, ebenfalls eingezwängt. Die Kammer eine Klammer, und dieses junge Mädchen ist in Stendal nicht Gretchen, sondern: Margarethe. Wird nicht gestempelt mit Verniedlichung, bleibt nicht gewohnheitsmäßig verkindlicht. In dieser Gestalt strahlt überraschend der Kern der etwa zweieinhalb Stunden: Caroline Pischel, blondlanghaarig, beantwortet auf überzeugende Weise die alte Frage neu: Wem gehört das Stück? Gleichgültig, in welcher Tonlage, in welcher Verzerrung oder Zerstückelung: Dem Mephisto gehört es zumeist - und höchstens noch Faust. Hier gehört's Caroline Pischel.

Margarethe ist eine grundstürzend existenzielle junge Frau. Erregt und erhitzt, stürmt vor, zieht sich zurück, drängt wieder vor. Bald schon mit Blutstempel, den sie nach ihrer Entjungferung nicht mehr loskriegt, der ihr später das weiße Büßerkleid tränkt und das Gesicht einschmiert. Eine Ohnmächtige, ein Opfer. Und just darin: Weltrichterin. Ein anmutig wehrloser Mensch nämlich nimmt diese ganze Welt ganz allein auf seine Mädchenkappe: den ganzen Schmutz, das Unrecht, die Frechheit, den Betrug, die Nötigung, die Erpressung, den Verrat. Und bleibt darin voll eines Glanzes: des Eigengefühls noch im Schatten der nahenden Hinrichtung. Der Henker wird kommen, der Wahnsinn ist schon da.

Es obwaltet ein Geist, der über die Scherben des Glücks triumphiert, aber so, dass schier jeder Splitter diese Margarethe widerspiegelt und ihr Bild gleißend abstrahlt. Caroline Pischel starrt wie in verschleierter Trance in eine unendliche, freie Ferne, die sie aber gleichzeitig als bedrängende, luft- und seelenabschnürende Nähe spürt. In hell brennender Vernunft fühlt sie, was mit ihr passiert ist. Und standen die Weißhemd-Engel zu Beginn bergend um den alten Faust im Studierzimmer, so stellen sie sich am Ende schützend um dieses bebende Weib, dessen Sehnsuchtsfrischeton noch im Schmerz Signale sendet.

Nur fünf Akteure! Caroline Pischel, Michaela Fent, Dimitrij Breuer teilen sich an die zwanzig Rollen, Hannes Liebmann und Andreas Schulz sind Faust und Mephistopheles. Dazu Live-Sound vom Klavier am Bühnenrand (Musik: Niklas Fischer). Links und rechts zwei Türen, in der Mitte ein schmales Tor - in eine Tiefe, darin stimmungsmalend Spektralfarben glühen. Nebel wallt, ein Kirchenkreuz droht. Videofetzen lassen die Gesichter von Teufel und Faust verschmelzen, eine zerzauste Margarethe schreit stumme Bilder. Ein Podest ist Bett oder, grün bespannt, Marthes Garten (Bühne: Mark Späth). Die Walpurgisnacht spartanisch, der Osterspaziergang ein Anriss. Vom deklamatorisch umwehten Vorspiel auf dem Theater geht's schnörkellos, aufputzlos ins erwähnte Kraftfeld des Abends.

Hannes Liebmann ist der alte Faust, er wirkt wie ausgezehrt; sein sich steigernder Aggressionsgrad wird abgefedert und ausgehalten mit mühsamen Bändigungsgesten. Hagere Gestalt. Ausgeglüht scheinender, knochenmagerer Schädel. Aufgerissene Augen - ein Bild der verzweifelt rumorenden Ermattung. Ein Überdrüssiger, der ausgehöhlt um sich denkt, als schlüge er um sich. Sein Atem ein Stress-Metronom. Ihm gegenüber Andreas Schulz als ein junger, nahezu sauberer Mephisto, der äußerlich etwas von der beflissenen Bubigkeit eines Manuel Neuer hat - da ist eine adrette, beinah artige Art, die so gar nicht zur höllischen Profession passen will. Und so überzeugt denn die pfiffige Idee der Inszenierung: bei der Verjüngung Fausts einfach die Rollen zu tauschen. Der gegerbte Liebmann ist jetzt der Bosheits-Barde, und Schulz übernimmt den jungen faustischen Galan, der lernen will, was wahre Lebendigkeit sei. Und der mit Liegestützen erst mal beglückt seine zurückgekehrten Jugendgrade prüft.

Liebmann spielt den Mephisto äußerst zynismenpraktisch. Er ist kein gefallener Engel. Er ist der von allem Irdischen ungehalten erschöpfte Heizer einer längst schal gewordenen höllischen Gier und Lust, die er mit letztem brennbarem Material unterhält. Nicht großer Schuft, auch nicht armer Teufel. Sondern: das Teilchen - einer zerrütteten Welt, die von ihrer Fundamenten abblättert wie der Putz von der Wand. Ein Verderbensprofi. Immer wieder scheint er sich dem Publikum zuzuneigen - aber doch nur, um ihm zu zeigen, wie wenig er, um gerechtfertigt zu erscheinen, Publikum nötig hat.

Von Schulz' Faust geht ein bohrendes Staunen aus, ein gefasstes Beobachten, als trenne den Erlebenssüchtigen stets nur ein schmaler Grat vom Ausbruch aus dem teuflischen Dunstkreis. Das schafft Spannung. Als drohe jederzeit Wettabbruch. Als errette Faust sich beizeiten selber - aus dämoniegestützter Anmaßung und gefährlicher Kumpanei. Aber es siegt schließlich jener Egoismus, der ihm ins Herz wächst wie ein Pfahl.

Das ist die Tragödie: Liebe offenbart sich als - Natur. Und Natur ist grausam: Immer liebt von Zweien der eine mehr als der andere, und wer stärker liebt, ist das schwächere Wesen. Muss Schändung leiden. Margarethe. Faust rettet sich ins Freie? Nein, er trägt nur das Unvereinbare weiter, das unablässig den Menschen treibt: Der fordert vollste Freiheit und sucht doch immer - strengste Bindung. Es ist der göttliche, teuflische Widerspruch, der uns zerreißt.

Nächste Vorstellungen: 8., 12., 15., 16., 18. September