nd-aktuell.de / 11.09.2018 / Kultur / Seite 15

Aufstehen ist wichtig

Regisseur Alejandro Quintano über den Pinochet-Putsch 1973 und Theater in Ostdeutschland

Wie kommt man als Theatermann in die ostdeutsche Provinz?

Ich bin Mitbegleiter einer Idee. Meine Frau hat vielerorts an Bühnen gespielt, sie wollte irgendwann nicht mehr davon abhängig sein, wo sie spielt und wer sie besetzt. Sie meinte, sie hätte jetzt ein Alter erreicht, in dem man Eigenes macht. Und ich bin in einem Alter, in dem ich nur arbeite, wann ich will.

Das erleichtert natürlich so ein Projekt wie das Luzin Theater.

Wir sind zu dem Theater wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Wir haben einen Ort gesucht, nicht wo die Arbeit ist, sondern wo wir leben wollen, und Feldberg gefunden. Besser, einen See in Feldberg, der Luzin heißt, es gibt den schmalen und breiten Luzin, und deshalb der Name Luzin Theater. Es mag etwas esoterisch klingen, aber das ist ein Ort mit einer extrem guten Energie. Man fühlt sich wohl in dessen Nähe, und hier haben wir uns ein Zuhause gezimmert.

Und den Beruf weiter ausgeübt.

Wir haben gesagt, wir spielen, wo wir leben, wo wir uns wohlfühlen, wo uns die Umgebung und die Menschen gefallen, das, was wir gut machen können oder gerne tun. So sind wir zu diesem Luzin Theater gekommen.

Sie hatten Helfer, Verwandte, Freunde. Auch Leute aus der Umgebung?

Ganz wesentlich war für uns die Sympathie des Ortes. Meine Frau machte einen Workshop für die Gemeinde. Und der war so erfolgreich, dass sich eine Laiengruppe zusammenfand, die inzwischen aus 20 Interessenten besteht. Eine Zusammenrottung von Sympathie, von entfesselter Leidenschaft. Jeder bringt Lebenserfahrung mit. Meine Frau Sylvia ist das Herz dieser Idee.

Nach dem Einbruch der Diktatur Pinochets 1973 verweigerten Sie sich den neuen Verhältnissen und flohen wie viele andere in die DDR. Zuvor studierten Sie in Santiago Schauspiel. Was bewog Sie dazu?

Ich habe studiert, weil ich süchtig war nach diesem wunderbaren Instrument, was das Theater ist, nach dieser fantastischen Mischung aus Clownerie und Philosophie, nach Spiel und Behauptung, nach Traum und Message.

Sie seien damals ernster geworden, sagen Sie, und hätten die Politik entdeckt.

Das war folgerichtig. Die Zeit der 1960er-Jahre war in ganz Lateinamerika stark geprägt durch die Kubanische Revolution. Unser Kontinent war und ist immer noch ein sehr junger Kontinent. Später schwappte der Geist der Kubanischen Revolution über nach Frankreich, teils auch in die Bundesrepublik. Ich will damit nur sagen: Die Lage in Chile war in den Endsechziger Jahren extrem politisch.

1970 kam dann Salvatore Allende an die Macht.

Wir sprachen damals vom Wir. Das chilenische Volk hat auf demokratische Weise den sozialistischen Weg gewählt. Und wir haben wirklich in diesen fast drei Jahren unheimlich viel nach vorne gebracht. Errichtet wurde etwas, das außer in Kuba in Lateinamerika, auch in der Welt noch nicht gesehen worden war. Mit dem Unterschied, wir haben es auf eine demokratische Art und Weise gemacht. Es war ein sehr, sehr spannender Prozess. Er war auch für Europa wichtig, er war wichtig für die Möglichkeit eines dritten Weges zum Sozialismus.

Hätten Sie sich als junger Schauspieler bessere Entwicklungschancen vorstellen können?

Nein, ich hatte fantastische Lehrer. Da in Chile so ein einmaliger Prozess stattfand, hatten wir das Glück, Dozenten und Lehrer aus aller Welt dazuhaben. Alle wollten irgendwie einen Beitrag leisten, damit die dauernd Angriffen von innen und außen ausgesetzte Allende-Regierung gestärkt wird.

Identifikation mit dem Entwurf, Solidarität.

Ja, es war ungefähr das, was in der Spanischen Republik ab 1936 passierte, nur nicht im Krieg, sondern im Frieden. Internationale Brigaden, aus allen Kontinenten herbeigekommen, um Spanien zu helfen, waren auch bei uns, aber ohne Waffen. Wir haben profitiert von den besten Kräften der progressiven Welt.

Was haben Sie verändern können?

Vieles, leider nur für eine kurze Zeit. Aber diese drei Jahre haben tiefe Spuren in meinem Land hinterlassen. Wir haben versucht, ein würdevolles Leben für viele zu erreichen. Das ist unvergessen im kollektiven Gedächtnis meines Landes. Der Putsch war hart und dauert an, aber die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist unstillbar. Wir werden wieder aufstehen, langsam, sehr langsam, aber sicher. Aufstehen ist wichtig.

Und konkret?

Wir haben die Theaterkultur verbreitert, breiteren Schichten zugänglich gemacht. Ich gehörte parallel zu meinem Studium zu einer Gruppe der Gewerkschaftszentrale Chiles CUT, die Stücke zu den Arbeitern oder den Bauern gebracht hat. Vielleicht ein bisschen engstirnig gedacht, aber mit einem großen Elan, mit einer großen Utopie.

So, wie das Sowjettheater der 1920er-Jahre es vormachte?

Ja, so ähnlich, aber ohne Krieg. Man spricht von der Zeit des Frühlings während der Allende-Jahre. Natürlich nur wir, die Linken - die Rechten sprachen vom Winter, vom Ende der Kultur. Im Radio konnten wir wieder unsere Musik hören. Die Kultur war zugeschüttet durch fremde Einflüsse, US-amerikanische besonders. Wir liegen sehr nahe den USA. Jede Mode, jede Sache wird erstmal in Südamerika probiert, bevor sie in Nordamerika in den Handel kommt. Das haben wir abgeschüttelt und sind so zu unseren Wurzeln zurückgekommen.

Viel wäre über Ihre fruchtbare Zeit danach zu sagen. Wir müssen springen. Im Luzin Theater wollten Sie mit Ihrer Frau »Guten Morgen, ihr Schönen« nach Maxi Wander, kombiniert mit anderen Frauengeschichten, auf die Bühne bringen. Das hat nicht geklappt, weil die Wander-Erben Ihr Konzept nicht akzeptierten. Was dann?

Wir mussten das Pferd im Laufen wechseln. In Krisen kommen manchmal die besseren Ideen. Der Impetus bleibt, wir änderten nur den Text. Ist die Welt veränderbar? Wir meinen, doch. Nicht weil es jetzt Mode ist, über Frauenprobleme zu reden, sondern weil sich in ihnen die Probleme der Zeit kristallisieren, seit langem. Schon Karl Marx sagte, die Geschichte des Klassenkampfes beginnt mit der Unterdrückung der Frau.

Und des Mannes, der Kinder, der Alten. Regionen in Mecklenburg-Vorpommern stehen vor dem Verschwinden. Jugend wandert ab, hohe Arbeitslosigkeit. Armut grassiert. Die Hirne verblöden vor den Bildschirmen. Kommen bei solchen Zuständen die Leute trotzdem zu Ihnen ins Theater?

Ja, Feldberg ist ein besonderer Ort. Der Gestus, der humanistische Impetus muss stimmen. Wenn du die Sehnsüchte der Menschen triffst, machst du ihre Herzen auf. Menschen sind empfänglich für künstlerische Äußerungen, die geerdet sind.

Wozu Theater?

Weil wir es wollen, weil wir dadurch in Austausch mit vielen Menschen kommen, weil wir mit unseren Spielen einen Beitrag leisten zur Humanisierung der Umstände. Und natürlich, weil es Spaß macht. Unser Spaß besteht in dem Versuch, Sehnsucht nach Veränderung zu wecken. Ich glaube, das Emotion, Gefühle anzusprechen eine wesentliche Seite unserer Arbeit ist. Das ist die Tür, wo die Zuschauer reinkommen. Das Wichtigste ist: das Ganze muss sich sinnlich vermitteln, sonst erreicht man keinen Menschen.

Der Zuschauer fühlt, denkt, empfindet sehr verschieden.

Aber wenn du richtig interessiert bist an dem, was du tust, wenn du selbst bewegt, berührt wirst, wenn du selber eine Sache angehst, die dich stört oder fasziniert, dann wird mit dem Zuschauer auch was passieren. Wir wissen nicht hundertprozentig, was sich da überträgt, aber dass sich etwas überträgt, dürfte außer Frage stehen.

Anstelle von »Guten Morgen, ihr Schönen« kommt nun im Luzin Theater »Bezahlt wird nicht« von Dario Fo. Was sucht die Spezies Frau darin? Klaut sie nur, um zu überleben?

Die Frauen im Stück klauen nicht, sie führen eine Enteignung durch. In der Bibel steht: »Wer einen Dieb bestiehlt, genießt hundert Jahre Pardon.«

»Bezahlt wird nicht«, Luzin-Theater, Feldberger Seenlandschaft, Ortsteil Wittenhagen. Premiere am 22. September