nd-aktuell.de / 18.09.2018 / Kommentare / Seite 4

An der roten Linie

Koalitionskrise, Kunst, Kochrezept? Bernd Zeller ist auf der Spur eines 73 000 Jahre alten Fundes

Koalitionskrise, Kunst, Kochrezept? Bernd Zeller

Unser heutiger Bericht befasst sich mit einem kunsthistorischen Thema von unabsehbarer Tragweite. In einer Höhle in Südafrika haben Forscher einen Stein gefunden, auf dem sich rote Linien befinden, gezogen vor 73 000 Jahren. Damit wäre diese Zeichnung das älteste Kunstwerk der Menschheit - sofern es sich um Kunst handelt, worüber ein Streit unter Experten ausgebrochen ist.

Wir haben nämlich seit der Steinzeit gelernt, Kunst im Kontext zu betrachten. Dieser rot linierte Stein könnte als Konzeptkunst in jeder zeitgenössischen Ausstellung präsentiert werden. Allerdings würden wir erwarten, dass in einem Katalog oder einer Rezension die innovative Leistung des Künstlers gewürdigt würde, sei es als Interpretation oder als diskursive Annäherung in der Art: oh, was für eine radikale Kompromisslosigkeit in der Überwindung verkrusteter Formen!

Dass der Künstler noch etwas sagen wollte, ist überholt. Hingegen könnte die damalige Rezeption eine klare Linie verlangt haben, die auf dem Stein deutlich zu sehen ist.

Es ist durchaus damit zu rechnen, dass schon vor 73 000 Jahren der Künstler mit seiner Radikalität ein Zeichen setzen wollte und das Ende der Steinzeit heraufbeschwor. Mit seiner Kunstaktion könnte er eine friedliche Nutzung der Faustkeile gefordert haben. Die schockierten Steinzeitmenschen könnten gesagt haben: Das ist mir zu abstrakt, ich will Jagdszenen mit Tieren an Höhlenwänden. Den Kunstkritikern war es wiederum nicht modern genug, die meinten: Da erkenne ich doch was, nämlich den Stein. Eine solche Polarisierung mag dem Künstler weiteren Auftrieb gegeben haben.

Selbstverständlich muss es kein Mann gewesen sein. Es kann sich auch um eine Frau gehandelt haben, die nicht nur am Feuerplatz sitzen und sich mit Töpfern befassen wollte, sondern nach einer Form suchte, sich auszudrücken. Es wäre gar nicht als typisch weiblich zu klassifizieren, wenn sie mit dem Stein eine Mahlzeit symbolisiert und dauerhaft dargestellt hätte. Ähnliches hat auch Klaus Staeck gemacht, allerdings nur mit Steinen, ohne Linien.

Wie wir sehen, kommt es auf die künstlerische Absicht an. Nach heutiger Auffassung fällt unter Kunst alles, wovon ein Künstler sagt, es sei Kunst - und ein Künstler ist jeder, der so etwas äußert. Überholt ist die Auffassung, Kunst entstünde im Auge des Betrachters. Wenn es danach ginge, würde gar keine Kunst entstehen, denn der Betrachter versteht ja nichts von Kunst. Darum ist er schließlich der Betrachter. Seine Mitwirkung beschränkt sich darauf, sich verstört abzuwenden und damit den künstlerischen Wert zu bestätigen.

Und hier liegt das Problem bei der Einordnung des Fundstücks. Zum einen wissen wir nicht, ob es sich überhaupt um ein kühnes, die Tradition sprengendes Original handelt oder nur um eine billige Nachahmung anderer linierter Steine, die schon jemand erfunden hatte. Zum anderen ist über die Intention nichts bekannt, es kann auch etwas Sinnvolles gewesen sein. Dann wäre es keine Kunst, etwa ein Kochrezept oder eine Mitteilung an die Eltern, vielleicht der Termin einer Verabredung. Es würde auf einen hohen kulturellen Stand hindeuten, dass keine Emotions-Bildchen verwendet wurden.

Auch um eine politische Nachricht kann es sich handeln. Es wurde eine rote Linie aufgezeigt. Eine prähistorische Koalitionskrise könnte im Gange gewesen sein. Denkbar ist ein Streit über den Ausstieg aus dem Feuer wegen der Klimaerwärmung, oder die Männer fanden: Eine Million Jahre Matriarchat reichen, jetzt brauchen wir Quotenpatriarchen. Vielleicht war es der Grundstein einer geplanten Hauptstadtpyramide, sie wurde bloß nie fertig.

Zu denken wäre gleichfalls an einen Gegenstand für frühe medizinische Zwecke. Man legte den Gesundheitsstein beim Schamanen vor, und der machte für jeden Heiltanz einen Strich.

Am schönsten bleibt indes die Vorstellung einer künstlerischen Zeichnung auf einem Skizzenstein. Dann hätte es in der Steinzeit nicht nur viele Steine gegeben, sondern auch viel Zeit.