Doppelte tragische Ironie

Appelle für Tarifbindung blieben in Thüringen völlig wirkungslos

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 3 Min.

Das neue Zahlenwerk, das IAB-Betriebspanel - Länderbericht Thüringen heißt, kommt gleich doppelt ironisch daher. Für Rot-Rot-Grün sogar doppelt tragisch. Was einerseits an dem Dienstag liegt, an dem diese Studie vorgestellt wurde. Denn darin heißt es unter anderem dass jemand, der in Thüringen sozialversicherungspflichtig und in Vollzeit arbeitet, im vergangenen Jahr im Durchschnitt gerade einmal 2540 Euro brutto pro Monat verdient hat. Das sei, sagt Thüringens Arbeitsministerin Heike Werner (LINKE), etwa ein Viertel weniger, als vergleichbare Beschäftigte »im Westen« erhielten.

Gleichzeitig ist die Durchschnittszahl freilich auch ein Ausdruck dafür, wie tief der Thüringer Arbeitsmarkt gespalten ist. Denn es gibt sehr wohl auch im Freistaat viele Menschen, die deutlich mehr Geld verdienen; vor allem viele von denen, die im öffentlichen Dienst beschäftigt sind. Lehrer etwa. Und ausgerechnet an dem Tag, an dem Werner dieses Panel vorstellt, verkündet ihr Kabinettskollege und Parteifreund Bildungsminister Helmut Holter, dass Thüringens Regelschullehrer in Zukunft noch mehr Geld bekommen werden. Statt wie bisher ein Grundgehalt von etwa 3300 bis 5300 Euro brutto pro Monat nach Besoldungsstufe A12, ab 2020 ein Grundgehalt zwischen etwa 3700 und 5400 Euro brutto pro Monat in der Besoldungsstufe A13. Was deshalb ironisch, ja geradezu tragisch ist, weil Rot-Rot-Grün es mit den Lehrern so gut meint, dass viele Arbeiter und Angestellte in Thüringen nun das Gefühl haben werden, ausgerechnet das Mitte-links-Bündnis habe denen noch mehr gegeben, die ohnehin schon deutlich mehr als sie haben; ausgerechnet dieses Bündnis habe die innerthüringische Spaltung auf dem Arbeitsmarkt noch vergrößert.

Die Ironie, ja Tragik des 22. IAB-Betriebspanels liegt für Linke, SPD und Grüne andererseits darin, dass unbestritten kein Regierungsbündnis im Freistaat seit der Wende so sehr bei der Wirtschaft darum geworben hat, dass die Unternehmen ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen. Ungezählte Male hat Werner das ebenso gefordert wie Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), oft mit Unterstützung durch Gewerkschafter.

Doch die Zahlen des aktuellen Panels zeigen, dass diese Appelle völlig wirkungslos geblieben sind. So unterlagen 2017 nur noch 18 Prozent der Thüringer Unternehmen der Tarifbindung. Kurz nach der rot-rot-grünen Machtübernahme 2015 waren es noch 24 Prozent gewesen, 2016 noch 22 Prozent. Damit ist auch der Anteil der Thüringer Beschäftigten deutlich gesunken, die den Schutz von Tarifverträgen genießen: Von 48 Prozent 2015 auf 46 Prozent im Folgejahr und 43 Prozent 2017. Alles Werben um die Vorteile von Tarifverträgen, die Werner noch einmal aufzählt - Planungssicherheit für Arbeitnehmer und -geber, Transparenz beim Lohngefüge, Rechtssicherheit in Streitfragen -, konnte die eigentlichen Unternehmenslenker offenbar nicht überzeugen. Auch wenn selbst manche Arbeitgeberverbände bei ihren Mitgliedern für den Eintritt in den oder den Verbleib im Tarif werben.

Trotz der Daten bleiben Werner und andere Koalitionsvertreter bei ihren Appellen. Die immer trotziger klingen. Auf die Frage, ob Tarifverträge doch ein Auslaufmodell seien, sagte Werner: »Ich glaube an die Macht des Faktischen in bestimmten Bereichen.« Der Fachkräftemangel werde dazu führen, dass Unternehmen gezwungen würden, Tarifverträge anzuwenden, weil Fachkräfte dorthin gingen, wo solche Regelwerke gelten. SPD-Arbeitsmarktpolitikerin Diana Lehmann formuliert das ähnlich: »Gute Arbeit und gute Löhne sind ein wesentlicher Beitrag zur Fachkräfteentwicklung. Wenn wir eine Lohnsteigerung wollen, dann brauchen wir flächendeckende Tarifverträge.« Genau das Argument aber tragen rot-rot-grüne Arbeitsmarktpolitiker schon seit Amtsantritt vor sich her. Offenbar ohne Erfolg. Was nur zwei mögliche Schlussfolgerungen zulässt: Entweder der Fachkräftemangel in Thüringen ist längst nicht so schlimm, wie die Wirtschaft behauptet. Oder Tarifverträge sind doch nicht die richtige Antwort, um diesem Mangel zu begegnen.

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