Die Bäume reisen nicht

Welttourismustag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Mancher, der reist, will gar nicht reisen, sondern ist nur gern fort. Irgendwie weg zu sein, ohne sich in Bewegung setzen zu müssen, das wär’s. Als man den Schweizer Dichter Robert Walser zu einer Expedition in die Südsee einlud, lehnte er ab: »Nein. Bäume reisen auch nicht.« Aber ganz ohne Entfernung geht Leben nicht.

Die Belebung toter Winkel geschieht freilich nicht durch flüchtiges Ausschwärmen. Es ergibt sich nicht automatisch dort Erfahrung, wo Fahrtenbücher geführt werden. Hans Magnus Enzensberger schrieb ein Gedicht über Bogotá, Mindelheim an der Mindel, Fidji, Helsinki, Turin und Bujambara, er erlebte Kälte, Restaurant-Ruhetage, strömenden Regen, ausgebuchte Hotels, Straßensperren und streikende Müllfahrer - sein Fazit: »Noch am ehesten auszuhalten/ war es unter dem Birnbaum/ zuhause.« So viel zum heutigen Tag des Welttourismus.

Andererseits bleibt es eine Wohltat, in Abständen dahin zu fahren, wo man nicht hingehört. Reisen, ja, aber mit dem souverän freien Willen, den Bedeutungen auszuweichen - die überall auf den Menschen zukommen, wo Begegnung stattfindet. Reisen nicht, um sich zu zerstreuen, sondern um sich zu verlieren. In anderen Existenzen, anderen Fragen, anderen Anschauungen. Jedes Gegenteil als Teil des Ganzen erfahren, sich reicher wähnen durch aufkommende Unsicherheit im Urteil, das man von sich selber hat. Immer nur in den eigenen Wänden? Das ist die Villa Verfolgungswahn. Denn wahr ist doch: Zu Hause bin ich mir zu nahe, Rechthaberei und Borniertheit summieren sich rasch zu einer deprimierenden Last.

Unsere Sehnsucht nach dem Draußen ist allerdings niemals wirklich glücklich, sie kann nur melancholisch auftreten. Es ist ein Seelenzustand, der das Ungenügen, das einen umgibt, erträglich machen soll. Deshalb: Malaga statt Malchow! Toskana statt Torgau! Tourismus ist das Versprechen von Erlösung - nach unverdientem Leiden in Büro und Betrieb. Weil wir uns entfremdet erfahren, unterwerfen wir die Wirklichkeit kurzzeitig einem gnadenlosen All-inclusive-Denken. Wir wollen ein letztes Ghetto dessen, was uns hell und ungetrübt scheint. Urlaub heißt: in der Sonne Kraft sammeln für den Kampf um den Platz an der Sonne.

Dass der Tourismus boomt - es ist womöglich auch Ausdruck eines Zeitgeistes: Die Gesellschaft applaudiert nämlich jedem, der Übereinstimmung mit sich selbst für weniger wichtig hält als Übereinstimmung mit anderen. Ausgerechnet die Welt der vielen Freiheiten schuf eine Erlebnisindustrie, die beflissen die Abstände zwischen uns schleift. Sich zu unterscheiden von anderen, sich allgemeinem Geschmack zu widersetzen - das ist eine erhebliche Mühe geworden. Sie bringt uns in Konflikt mit einem Grundbedürfnis: Der Mensch will sich seiner Eigenart erfreuen, aber zugleich nicht mit ihr auffallen müssen. Das ist es, was Gesellschaften ausbalanciert - und sie gefährlich anfällig macht für Opportunismen aller Art. Vielleicht ist der Welttourismus die größte Massenorganisation der Mitläuferschaft?

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