Alle DEFA-Filmklassiker von Kultregisseur Konrad Wolf von 1955-1980

  • Lesedauer: 9 Min.

Im vergangenen Herbst starb meine Oma und mit ihr mein letzter Großelternteil. Bei der Beerdigung kam mir der Gedanke, dass - wenn alles seinen biologischen Gang geht - meine Eltern die nächsten sein werden, von denen ich mich für immer verabschieden muss. Und ich fragte mich, wie sie über das Sterben und den Tod denken. Zu meiner Überraschung nahmen sie die Einladung zu einem Gespräch darüber bereitwillig an.

Wir führen das Gespräch an einem Mittwochvormittag. Es dauert zwei Stunden, wir reden, weinen und lachen. Zunächst erzähle ich von einem Traum, der mich das erste Mal hatte erfahren lassen, dass auch ich sterben werde. Ich bin Mitte dreißig gewesen und habe diese Wahrheit beim Aufwachen gefühlt. Und ich zeige ihnen eine Fotografie aus dem Familienfundus. Als ich sie das erste Mal in den Händen gehalten hatte, war mir klar gewesen, dass viele der Abgebildeten inzwischen tot sein müssen. Aber sie haben mich alle angeblickt, als ob das nie passieren würde. Das hatte mich sehr berührt. Und dann beginne ich, meine Fragen zu stellen.

***

Was ist eure erste Erinnerung an Sterben und Tod, wann habt ihr das erste Mal Berührung damit gehabt?

Mein Vater: Es war ungefähr um 1960 herum, wir waren in den Ferien bei meinem Onkel auf dem Land. Ich fuhr mit meinem Bruder durch die Felder, und da lag plötzlich ein älterer Herr quer über dem Weg, sein Fahrrad lag daneben, und es klemmte noch ein Brot unter seinem Arm. Mein Bruder und ich, wir sind von unseren Fahrrädern gesprungen und standen ganz versteinert da, und hinten sah ich jemanden im Feld langfahren und wollte immer rufen, aber das klappte nicht, ich kriegte keinen Ton heraus. Dieses Erlebnis habe ich dann aber relativ schnell verarbeitet. Das zweite Mal war 1964, als mein Opa kurz vor meiner Jugendweihe gestorben ist. Das ging mir dann schon ein bisschen anders unter die Haut.

Meine Mutter: Auch weil du ihn gekannt hast.

Mein Vater: Weil ich ihn gekannt habe, weil ich eine persönliche Beziehung zu ihm hatte. Die Geschichte mit meinem Opa war eigentlich die einschneidende, ich war damals knapp vierzehn, als mich dieses Problem so berührt hat, diese Unabänderlichkeit des Geschehenen, dass du mit demjenigen, der gestorben ist, nie wieder zu tun haben kannst.

Meine Mutter: Mich haben die ersten Erfahrungen mit dem Tod kaum berührt. Zum Beispiel die Mutter meiner einen Oma. Ich kann nicht sagen, wann das war, ich weiß nur, dass sie im Bett lag und ausgemergelt war, und sie hat meine Hand relativ lange gehalten, was ich als unangenehm empfand. Und dann war sie gestorben und einfach nicht mehr da. Das erste Mal berührt hat es mich, als der Vater meines Vaters gestorben ist, 1979. Da habe ich hemmungslos geheult. Das war das erste Mal, dass ein Mensch gestorben war, den ich gut gekannt hatte. Und dann das mit meiner Schwägerin, sie war vier Jahre jünger als ich, also das hat mich auch geschüttelt. Und dann das Erlebnis mit meinem Schwiegervater. Ich habe immer gedacht »Warum durfte er noch nicht einmal Sechzig werden?«.

Wie war das für euch, als eure Eltern starben? Was bedeutete das für euch?

Mein Vater: Das ist schwer zu sagen. Als das Thema mit den Eltern losging, war das ja eine absolute Ausnahmesituation durch die Krankheit meines Vaters in so relativ jungen Jahren, mit knapp Mitte Fünfzig, und dann auch noch sein plötzlicher Tod. Es war ein absoluter Ausnahmezustand, in dem meine Mutter auch einen Schock gekriegt hat und sicherlich gut beraten gewesen wäre, wenn das behandelt worden wäre.

Ein Trauma?

Mein Vater: Ja, im Prinzip ein Trauma. Sie wollte das einfach nicht wahr haben und konnte das auch nicht verstehen. Und das hat dann natürlich einschneidende Folgen gehabt in den Jahren darauf, für sie und für uns.

Das heißt, es war für dich ein Unterschied, ob der Tod mehr oder weniger plötzlich kam, wie bei deinem Vater, oder ob du dich vorbereiten konntest, wie im Falle deiner Mutter, die Jahre nach deinem Vater und bettlägerig starb?

Mein Vater: Ja, wobei für mich auch bei meiner Mutter der Tod gar nicht so als das, was in nächster Zeit passieren wird, anklopfte. Das spricht wahrscheinlich dafür, dass man immer davon ausgeht, es wird noch ein Stück gehen, es dauert noch. Also dieses Endgültige verdrängt man glaube ich doch ganz schön.

Meine Mutter: Das Bewusstsein, das wird der letzte Weg. Wie jetzt bei meiner Mutter. Wir hatten fünf Jahre Zeit, uns vorzubereiten, und trotzdem ging es mir zum Schluss irgendwie zu schnell. Du hast mich mal gefragt, ob ich meinen Vater vermisse. Ich weiß gar nicht, was ich geantwortet habe. Ich weiß nur, dass ich das jemandem erzählt habe und er sagte ›Du hattest ja genug Zeit, Abschied zu nehmen‹. Das Letzte, woran ich mich bei meiner Mutter erinnern kann, ist der Donnerstag vor ihrem Tod, wir waren im Krankenhaus. Meine Mutter hatte kundgetan, dass sie nichts will, dass sie nicht abgehorcht werden will, dass sie kein Blut abgenommen bekommen will, ganz resolut, dort, wo rechts und links die Leute saßen und behandelt wurden. Und dann haben wir draußen auf den Transport warten müssen, und da sagte sie zu mir ›Dankeschön. Dankeschön. Dankeschön‹. Und ich habe dann nur gedacht, das umfasst jetzt wahrscheinlich jede Menge, keine Ahnung. (weint)

Welche Gefühle habt ihr bei dem Gedanken an euer Sterben, an euren Tod?

Mein Vater: Ich habe das Thema ja ein bisschen verarbeitet damals bei meiner Herzoperation. Nach der Operation sagte der Nachtarzt einmal zu mir ›Sie waren eigentlich tot‹. Also so nüchtern sind dann die Sachen, und ich dachte ›Mensch, na klar, also warst du tot‹. Und dann ›Na so schlimm war es eigentlich nicht‹. Also das ist ja das Thema, das eigentliche. Wenn man überhaupt über Angst reden kann, dann ist es vielleicht so ein Stadium, wo man spürt, es könnte jetzt zu Ende gehen und zieht sich zu lange hin. Und wenn man noch gar nicht will. Deshalb ist dieser Spruch ›Mensch, der und der ist umgefallen gestern, war tot, ach, was für ein schöner Tod‹ schon verständlich. Also so zu sterben, das ist wahrscheinlich die Sehnsucht von allen.

Und wäre das auch der Wunsch an dein Sterben? Dass es schnell und im Grunde genommen von dir unbemerkt passiert?

Mein Vater: Ich habe da keinen Wunsch. Weil ich weiß, dass manche Wünsche nicht erfüllt werden. Ich glaube, vielleicht ist es ganz gut, wenn einen das gar nicht weiter berührt, und man denkt ›Komm, lass es kommen. Wie alles, was du hinnehmen musst, lass es kommen. Und sorge dafür, dass du nicht unbedingt ein Pflegefall werden musst, vielleicht hast du dann Glück‹. Dass irgendwas schlapp macht in einer Art, dass es schnell vorbei ist.

Meine Mutter: Ich möchte eigentlich, wenn es sich vermeiden lässt, auch nicht ewig lange bettlägerig sein. Es kann ruhig noch ein Weilchen gehen, mein Leben, aber halbwegs gesund. Aber wer wünscht sich das nicht? Ich habe durch meine Operation gemerkt, was es heißt, auf Hilfe angewiesen zu sein. Und dann sehe ich meine Eltern, wie mein Vater dann nicht mehr konnte, wie meine Mutter jetzt nicht mehr konnte, aber das schiebe ich weg, weil ich nicht weiß, was passieren wird. Und dann denke ich, wenn es dann so weit sein wird, hast du vielleicht auch jemanden, der dir das Dahingleiten leichter machen wird. Womit ich ein Problem habe, wenn ich an meinen Tod denke, ist, dass ich nicht mitbekomme, was aus euch wird, was mit den Enkelkindern passiert, wie das weitergeht. Und auch, wie es gesellschaftlich weitergeht. Das ist das, was mich schmerzhaft bewegt. Aber es wird so kommen, und damit müsst ihr dann klar kommen (lacht). Und dann denke ich an eine Frau aus dem Heim, stark dement, die zu meiner zweijährigen Enkeltochter, sie lief an meiner Hand, sagte ›Ach, du hast aber noch viel Zeit!‹.

Mein Vater: Was ich mir noch überlege, ist Folgendes: Die Kirche ist ja mit einer Bewusstseinsform verbunden, die davon ausgeht, dass sie eine Lösung für den Tod hat. Und das ist schon ein interessanter Gedanke, sich vorstellen zu können, dass, wenn du nun schon von allem, was dich hier bindet, was dir hier wertvoll ist, Abschied nehmen musst, die Menschen loslassen musst, mit denen du gern zusammen bist und die dir am Herzen liegen, dass du dann eventuell in eine Welt kommst, wo du die anderen wiedertreffen kannst. Das wäre natürlich eine schöne Möglichkeit, sich von dieser Welt zu verabschieden.

Tröstlich?

Mein Vater: Ja, tröstlich.

Meine Mutter: Was willst du dafür tun?

Mein Vater: Nichts. Darüber nachdenken. Und sagen, vielleicht ist es so.

Meine Mutter: Da denke ich an meine Tante, die beim Tod ihres Bruders, meines Vaters, sagte ›Ich hoffe, dass die Mutter ihn abholt, er findet sich ja gar nicht zurecht da oben‹. Und an meine Schwiegermutter, die kurz vor ihrem Tod zu einer ihrer Enkeltöchter sagte ›Wir werden uns jetzt lange nicht sehen‹. Ich habe diese Gedanken nicht. Ich brauche diesen Trost oder wie auch immer man das sagen soll, nicht, weil, ich denke, das Gewimmel da oben würde mir auf den Keks gehen.

***

Zwei Wochen später rufe ich meine Eltern noch einmal an, um zu fragen, wie sie eigentlich beerdigt werden möchten. Meine Mutter kann sich einen Platz auf einer grünen Wiese vorstellen. Das einzige, was sie daran stören würde, ist der Gedanke, dass sie dann vielleicht nicht neben ihrem Mann beerdigt werden kann. Auch mein Vater kann sich inzwischen vorstellen, auf einer grünen Wiese beerdigt zu werden, mit einer Stele, auf der sein und der Name seiner Frau nebeneinander eingraviert sind. Ich selbst hätte nach dem Tod meiner Eltern gern einen realen Ort, an den ich gehen kann, um ihnen körperlich näher zu sein. Darüber, wie ich selbst beerdigt werden möchte, habe ich noch nicht nachgedacht. Bei Epikur las ich vor Jahren, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat: Solange wir leben, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr da. Ich kann mir vorstellen, dass das für den gestorbenen Menschen stimmt. Aber nicht für seine Familie, nicht für seine Freunde, nicht für die, die ohne ihn weiterleben.

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