nd-aktuell.de / 29.09.2018 / Reise / Seite 30

Entdeckung der Einfachheit

Chioggia ähnelt in vielem dem nahen Venedig und ist doch ein Geheimtipp.

Manfred Lädtke

Wo Rocco vor seiner Hafenbar »Al Bragossa« zu italienischen Schlagern kühlen, roten Raboso auf den Blechtisch stellt, ist Venedig nicht weit. Genauer gesagt, eine gute Autobusstunde oder 120 Schiffsminuten. Aber wer will in Chioggia schon nach Venedig?

»Ich nicht«, versichert Rocco. Über dem Canale el Lombardo blinzelt die untergehende Sonne betagte Werftschuppen an und flirtet mit stolzen Schiffsmasten. Vor der Bar diskutieren ein Dutzend Rentner Fußballergebnisse und schimpfen auf die Regierung.

»Buon giorno, Signorina« von Schnulzen-Altmeister Bobby Solo krächzt aus einem Radio. Auf dem Kanal schippern Fischerboote, dümpeln Frachtkähne, schaukeln Segelschiffe. Gondoliere wären hier arbeitslos. Und ein Gassenlabyrinth, das drängelnde Touristenscharen nach dem Zufallsprinzip ans Ziel lenkt, macht hier niemanden orientierungslos. Alles ist überschaubar.

Chioggia am südlichen Rand der Lagune Venedig ist anders. Dass es trotzdem als »Little Venice« wahrgenommen wird, ärgert seine 51 000 Bewohner. Chioggia sei kein touristisches Massenziel und mit der 80 Kilometer entfernten Schutzherrin gar nicht vergleichbar, macht Christina vom örtlichen Tourismusbüro deutlich. Klar, räumt die Stadtführerin ein, auch sie hätte sich für den venezianischen Vorposten ein bisschen mehr Pracht gewünscht. Zum Beispiel für den Steinlöwen auf der Säule am Ende der Flaniermeile Corso del Popolo. 1379 fiel die wegen ihrer Salinen begehrte Stadt im »Chioggia-Krieg« an Genua. Dann eroberten die Venezianer das Seedorf zurück und machten es bis 1779 zu einem Teil der Republik Venedig. Am Stadttor kennzeichneten die Herren ihren neuen Herrschaftsbereich mit einem Markuslöwen. Chioggias Raubtier sollte Venedigs imposantem Wappentier Paroli bieten, geriet aber zur Lachnummer. Bei ständigen Korrekturen an der Skulptur trug der Bildhauer so viel Marmor ab, bis nur noch ein Minilöwe übrig blieb, den Chioggias Bewohner nun respektlos »El Gato« (Kater) nennen.

Heute ist ihnen Venedig wurscht. Die unmittelbar vor der Haustür liegenden kilometerweiten Sandstrände von Sottomarina müssen den Vergleich mit Venedigs Lido längst nicht mehr scheuen. Außerdem hat Chioggia eine geschmackvolle Küche zu erschwinglichen Preisen - und vor allem eine übersichtliche Stadtarchitektur. »Seht her«, zeigt Christina über den Canale della Vena: Wie Venedig wird Chioggia in der Mitte von einer zentralen Wasserstraße durchzogen. Rechts und links vom Kanal zweigen zahllose Seitengassen wie Fischgräten rechtwinklig ab. Über neun Brücken kommt man geradewegs durch das Herz der mittelalterlichen Altstadt hinüber auf den Corso.

Steht die Sonne tief, steigt die Hochstimmung auf »Italiens größter Caféterrasse«, wie Italiens Literat Curzio Malaparte die von Arkaden gesäumte autofreie Straße adelte. Warteten dort früher Frauen auf die heimkehrenden Fischerboote, gönnen sie sich heute eine Pause von ihren Männern, widmen sich angeregt dem Familientratsch, Kochrezepten und den neuesten Modetrends. Dabei ist ihr Chic so individuell und leger wie die Stadt, in der sie leben. Für den besseren Durchblick auf der Piazza ist die auffällige Sonnenbrille vom Edeldesigner ein unverzichtbares Accessoire der Kleiderordnung. Nur unterm Tisch, da darf auch schon mal ein Ramschtischfummel mit ausgelatschten Schlappen das Outfit bestimmen.

Donnerstag ist Fischmarkttag. Der klar geordnete Stadtgrundriss macht es Fremden leicht, die opulent bestückten Stände zwischen der Piazza Vena und dem Vena-Kanal zu finden. Wenn ab vier Uhr morgens bei Sottomarina im größten Fischereihafen Norditaliens Fische und Meeresfrüchte auf Kleinlaster verladen werden, flüstern sich in dem turbulenten Treiben Händler und erschöpfte Fischer einander Preise in die Ohren. Das Zentrum des guten Geschmacks ist kein Pflaster für Marktschreier, sondern eine diskrete Börse für die Beute der Nacht - und ein lohnenswertes Ziel für Frühaufsteher.

Für Maler waren das immer Motive. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten sie die reiche Motivquelle im schlichten italienischen Alltag. Nach Eröffnung der Eisenbahnlinie nach Venedig segelten dort ohnehin immer weniger plakative Motive in die Lagune. Zudem gab es kaum einen Palast, einen Platz oder ein himmlisches Sonnenspiel, das noch nicht mit schnellem Pinselstrich verewigt worden wäre. Chioggia war die Entdeckung des einfachen Lebens. Das Fischernest am anderen Ende der Lagune bot schier unerschöpfliche Impressionen von hart arbeitenden Menschen abseits der Touristenströme: Fleißige Handwerker auf staubigen Gassen, zupackende Arbeiter vor bröckelnden Fassaden oder Fischer vis-à-vis der sich im Wasser spiegelnden Herrschaftshäuser wurden zum begehrten Sujet der Freilichtmaler.

»Heute kommen die Künstler als Studenten und Hobbymaler«, sagt Amedeo Signoretto. In einem kleinen Palais bei der Brücke San Andrea führt der Maler durch sein Atelier. Porträts, Häuser, Schiffe und Lagunenbilder leuchten in praller Farbigkeit von den pechschwarzen Backsteinwänden. Chioggia sei preiswert und still. Hier finde er die Muße, wie seine Vorgänger so zu malen, dass die Farben »singen«.

Nur zehn Minuten weiter auf der Piazzetta Vigo ist der schönste Platz im Städtchen, um den Tag zu beginnen oder zu verabschieden. Vor dem alten Hotel Grande nippen Müßiggänger, Flaneure und Touristen an Cappuccinos und schlürfen Cocktails. Sonnenstrahlen wärmen die Gesichter. Alle scheinen sich einig zu sein, dass es besser sei, zu genießen und zu bereuen, als nicht zu genießen und den versagten Genuss zu bereuen. Scusa, liebe Christina, aber ein bisschen Venedig ist auch in Chioggia!

Infos

http://de.turismovenezia.it/ Chioggia[1]

Anreise ab Venedig: Nach Chioggia fährt in Venedig jede Stunde ein Bus ab Piazzalle Roma.

Links:

  1. http://de.turismovenezia.it/ Chioggia