nd-aktuell.de / 05.10.2018 / Kultur / Seite 16

Die Demokraten folgten erst später

Christian Bommarius will das »lange deutsche Jahr« 1949 ausleuchten, marginalisiert allerdings Ostdeutschland

Günter Benser

Das Jahr, das uns Christian Bommarius hier vorstellt, ist - im Widerspruch zum Buchtitel - kein deutsches, sondern ein westdeutsches Jahr. Für dieses wurde aus zeitgenössischen Dokumenten, Meldungen, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen und anderen Quellen ein Mosaik zusammengesetzt, das uns ein lebendiges Bild der Geschehnisse des zweiten Halbjahres 1948 und des Jahres 1949 vermittelt. Manche Zeitzeugen tauchen wiederholt auf, und ihre Positionierungen durchziehen die Publikation, andere belegen nur bestimmte Ereignisse. Gegliedert wird nach den jeweiligen Monaten, die in einem Vorspann knapp charakterisiert werden. Bewusst wird eine thematisch strukturierte Darstellung vermieden, um Vielfalt walten zu lassen. Allerdings spielt sich das meiste im intellektuellen und künstlerischen Milieu ab, während andere Sphären der Gesellschaft selten aufscheinen. Gleichwohl ist eine flüssig geschriebene, manche Überraschungen bereithaltende, auch in dunkle Winkel und braune Ecken deutscher Nachkriegsgeschichte hineinleuchtende Lektüre entstanden, die den Leser gefangen nimmt.

Wenn sich so etwas wie ein roter Faden entdecken lässt, so ist dies der Widerspruch zwischen der unter Besatzungsherrschaft installierten Bonner Demokratie und der von den Hinterlassenschaften des »Dritten Reiches« durchdrungenen gesellschaftlichen Realität der westlichen Besatzungszonen sowie der Befindlichkeit der dort lebenden Bevölkerung. So resümiert der Verfasser in seiner Einleitung, dass »in Deutschland zwar eine Demokratie entstanden« war. »Aber die Demokraten folgten erst Jahre später.« Das Hauptverdienst des Juristen und Journalisten Bommarius besteht darin, aufzudecken, wie glimpflich mit den schuldbeladenen Eliten des NS-Regimes umgegangen wurde und wie sehr diese in wesentlichen Bereichen die sich formierende Bundesrepublik mitgeprägt haben. Weit weniger werden die Hinterleute des Faschismus aus den Gefilden der Wirtschaft ins Visier genommen.

Die Vorgänge in der sowjetischen Besatzungszone tauchen nur peripher, vorwiegend in ihren diktatorischen, repressiven Aspekten auf. Was hier an sozialökonomischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungen geschah, erschließt sich dem Leser nicht im Entferntesten. Generell sind nach Bommarius die »kommunistischen Staaten … mit der blutigen Liquidierung der Eigentümergesellschaften beschäftigt«.

Im Nachwort wird eine klare Scheidelinie zwischen Bundesbürgern und rechtsextremen Deutschen gezogen. Ausdrücklich möchte der Autor Sarrazins Devise »Deutschland schafft sich ab« widersprechen. Ob dies der Größe der Gefährdung unserer Demokratie gerecht wird, sei dahingestellt. Wer diese aussagekräftigen, überwiegend subjektive Haltungen, Beobachtungen und Empfindungen wiedergebenden Splitter historischen Geschehens in größere und tiefere geschichtliche Zusammenhänge einzuordnen vermag, der wird aus diesem Buch sicher Gewinn ziehen. Begnügen sollte sich mit solcherart Geschichtsvermittlung indes niemand.

Christian Bommarius: 1949. Das lange deutsche Jahr. Droemer, 320 S., geb., 19,99 €.