nd-aktuell.de / 09.10.2018 / Kultur / Seite 25

Alles dreht sich, alles kostet

Ursula Krechels Roman über eine sehr deutsche Einrichtung: »Geisterbahn«

Hans-Dieter Schütt

Wie leicht das doch alles ist! Man muss es sich nur einreden. Das Bewusstsein schafft das schon, es ist geschmeidig - das Bewusstsein schafft wesentlich das Sein. Durch Selbsteinflüsterung fühlt man sich also ganz schnell als das, was man doch nie war: schuldfrei. Eines Tages kommt da kein noch so drängendes Gewissen mehr ran. Als hätte zwischen Tag und Wiedertag nicht die schlimmste Finsternis gelegen. Leute dieses Schlags sind auf gar keiner Seite, sie sind bloß immer vorn. Desinteresse und Gleichgültigkeit sind ihnen beste Gleitmittel, um stets ins rechte Licht zu rutschen, ins rechte Lot. Dem Pragmatiker gehört jede Zeit - er schüttelt sich kurz den Ruinenstaub von den Schultern und macht weiter.

Ursula Krechel: Geisterbahn[1]. Roman.
Verlag Jung und Jung, 650 S., geb., 32 €.

Das ist der traurige, böse Stoff der Ursula Krechel. Nach »Shanghai fern von wo« und »Landgericht« nun der dritte Roman über das, was besagter politischer Pragmatismus zeugt: Verfolgte, Verschleppte, Vergaste, ins Vergessen Getretene. Unvergessbare. Hier ist es die Sinti-Familie des Alfons Dorn, Schausteller im katholischen Trier. Das Karussell als Sinnbild: Den alltäglichen Glücksgefühlen genügt ein kleiner Kreis, um in schönen schnellen Schwindel zu geraten. Und die Geisterbahn gibt unserem Kitzel Nahrung: Wir wollen, im Spaß, zu Tode erschrocken sein. Aber Deutschland wird zur Gegend, wo eines Tages eine andere Geisterbahn auf Kurs geht. Sie setzt Viehwaggons auf die Gleise - für Menschentransporte.

Ein Panorama. Explosion der Vielfalt: Gestalten und Situationen. Von Ursula Krechel so brillant gemalt wie streng geordnet. Alfons Dorn will in Berlin Autoscooter kaufen? »Zigeuner« als Kunden? Hau ab, Kerl! Eh Dorn das tun kann, landet er auf dem »Rastplatz Marzahn«, auf den Rieselfeldern, wo ab 1934 Sinti und Roma festgesetzt werden. Festgesetzt für spätere Abfahrten ins Lager. Der Roman treibt Familienstränge ineinander, bis ein Netz aus Zusammenhang und Aufeinanderprall schwingt und federt. Schicksalsschläge mit deutschem Stempel: Zwangssterilisierung, Verweigerung von Geburtshilfe, Flucht, Verhaftung. Auschwitz und Buchenwald. Das alles erzählt aus der fragenden Sicht Bernhards, dessen Vater ein Schutzpolizist war, später im Ost-Einsatz, einer der Treiber und Jäger wider die Dorns.

Immer weitere Kreise schlägt die Autorin, immer größer fächert sich das Ensemble der Verstrickten: der hochwärts kriechende Ehrgeizling, der widerständige Kommunist, die reiche Erbin - wo liegen die Grundpunkte, von denen Schuld ausging, Schweigen, Schande oder, trotz allem, Schönheit und Solidarität?

Die Vergangenheit: ein zäher, sich gern verkapselnder Stoff, nicht sehr freigiebig, wenn es um Ehrlichkeit geht. Nach dem Krieg auf nazigehärtetem Boden: Demokratie ja, aber vorwiegend mit denen, die ihr einst das Genick brachen. Moselwein wird zum günstigen Preis für Entnazifizierungen.

Die Schriftstellerin, in Trier geboren, ist promovierte Germanistin und gelernte Journalistin. Ihre Prosa lebt aus den Spannungen zwischen Urteil und Öffnung. Sie beherrscht grandios ihre Fügekunst aus Fiktion und Aktenzitat; das Erfundene ist verblüffend nahtlos verbunden mit dem Tatsächlichen - Adenauer taucht auf, der päpstliche Nuntius Pacelli, der Gau-leiter in Luxemburg. Auch Annoncen, Schlagzeilen und Amtspapiere erzählen die Zeit. In ihrer leidenschaftlichen Anwaltschaft für ungerecht Behandelte will die Autorin dem Beleg näher sein als jeder verführerischen Beschaulichkeit. Sie schreibt in dringlicher Hinwendung zu Schranken eines Gerichts. Detailbewusste Beobachtungen sehen sich in der Pflicht einer Beweiskette, in der kein Glied fehlen darf. Dies befehlen der Zorn, die Unerbittlichkeit, der Recherchedrang.

Das macht Krechels Werk so bezaubernd anstrengend. Der Roman protokolliert kühl das, was die Autorin ungemein erhitzt. Sie wagt Nüchternheit, ja hochfahrende Sprödigkeit, sie umgibt das Erfundene mit dem Bedrängungsmuster einer Dokumentation. Und dann plötzlich ironisches Perlen, sprachschöner Fluss, ein Benennungscharme von weit her - als sollte in hartem Report ein Weichzeichner den ganz anderen Herzschlag der Kunst offenbaren. Bevor der im nächsten Satz wieder überräuspert wird.

Familienmitglieder der Dorns, die das Höllische überlebten, kehren zurück nach Trier, auch den ehemaligen Tätern wachsen Erben nach - Träume treffen auf Traumata, die Verdrängungen bilden ihre Metastasen, die Sozialspannungen teilen Trier in Ober- und Unterstadt. Die Strenge, mit der Ursula Krechel der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft den Prozess macht, gab all ihren Romanen die Denkart vor. Wieder entstand in diesem Sinne ein großes Buch, bohrend in einem deutschen Geschichtskern.

Stets aufs Neue, durch die Zeiten hindurch, dieser Erfüllungseifer; ja, so sind wir, wenn man uns lässt. Wenn man uns Macht haben lässt, wie immer die sich ihre wechselnden moralischen Decknamen erfindet. Auch der Kommunist verdrängt und will von Schauprozessen, »von Verbannungen in unerreichbar ferne Lager, von der systematischen Ermordung vermeintlicher Gegner« nichts wissen. Bitterer Glaubwürdigkeitsglanz: »Alle dürfen mitmachen, alle dürfen Karussell fahren, aber es kostet.«

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