nd-aktuell.de / 08.10.2018 / Kultur / Seite 17

Was ist China?

Roman mit Landkarten und Index: »Gott der Barbaren« von Stephan Thome

Sabine Neubert

Auf die Frage, was China ist, wüsste ich keine Antwort außer: Ein Rätsel. Manche behaupten, es gäbe zwei China, das nördliche und das südliche, in Wahrheit sind oft sogar die Unterschiede innerhalb einer Provinz gewaltig.» Das sagt Philipp Johann Neucamp, ein ehemaliger Revolutionär von 1848, im Auftrag einer Basler Missionsgesellschaft zunächst im Süden Chinas tätig, dann unter dem chinesischen Namen Fei Lipu ruhelos in diesem großen Reich unterwegs. Doch was heißt schon Reich? «China (...) besteht seit Jahrhunderten als ein Reich, und trotzdem glaubt niemand an die Existenz eines chinesischen Volkes. (…) Der gemeine Mann fühlt sich seiner Familie verpflichtet, seinem Clan oder Dorf, alle haben ihre eigenen Erd- und Herdgötter.

Doch sein Freund Hong Jin, ein Bauernsohn und Rebell, hat andere und deutlichere Vorstellungen: »Völker entstehen durch Schienen und Straßen, Zeitungen, Telegrafen und die Post, während das Reich der Mitte auf der Unterdrückung der Menschen durch korrupte Beamte basiert.« Deshalb müssen der Kaiser gestürzt und die Mandarine davongejagt werden.

Dieser große historische Roman spielt im China in der Mitte des 19. Jahrhunderts, also während des Zweiten Opiumkrieges. Der Schriftsteller Stephan Thome, in Taipeh lebender Sinologe und Philosoph, will selbst, so scheint es, der Frage »Was ist China?« auf den Grund gehen. Auch er findet nicht nur eine, sondern viele Antworten. So trägt dieses an geschichtlichen Ereignissen und philosophischen Betrachtungen reiche Buch tatsächlich zu einem besseren Verständnis des heutigen Chinas bei. Landkarten-Skizzen und ein Personenregister helfen, beim Lesen den Überblick zu behalten.

Ein spannender Roman ist dieses Buch sowieso, Thome erzählt von vielfach verflochtenen Interessen, Kampfhandlungen und unvorstellbaren Grausamkeiten am chinesischen Volk. Angesichts Tausender von Toten, für die er mitverantwortlich ist, fürchtet der Generalgouverneur Zen Guofan, Oberbefehlshaber der »Hunan Armee«, die Zukunft: »Entsetzen befiel ihn erst, wenn er an das dachte, was am Horizont der Zeit heraufzog. Auf einmal sprachen alle von der Zukunft«, er fühlt sie »langsam auf sich zutreiben wie ein Schiff ohne Anker«.

Zen Guofan ist ein Gelehrter, der vom Kaiserhof zum Kriegsherrn berufen wurde, mächtig, aber innerlich zerrissen. Wer ist dieser »Gott der Barbaren«, so fragt man zunächst. Gemordet wird im Namen vieler Gottheiten und pervertierter Gottesvorstellungen.

Doch bald ist klar: Barbarisch ist die Gier der westlichen Länder und ihrer Händler, die Tee und andere wertvolle chinesische Güter »gegen Opium tauschen«, das heißt die Öffnung der Häfen und Märkte erzwingen. Barbarisch sind die Schlachten im Yangtze-Tal, die Zerstörungen und Plünderungen der alten Städte, Shanghai, Anqing, Nanking, Peking, des kaiserlichen Sommerpalastes bei Peking usw.

Barbarisch ist auch die Aufstandsbewegung der Taiping-Rebellen gegen die Kaiserherrschaft der Mandschu. Der Anführer dieser »Langhaarigen« mit Namen Hong Xiuyuag, die die alte Kaiserstadt Nanking besetzt haben, nennt sich »Himmlischer König« und hält sich für den jüngeren Bruder von Jesus Christus. Seine Anhänger überziehen das Land mit Terror. Es ist ein komplexes Kriegsgeschehen, das der Autor aus den verschiedenen Perspektiven Sichtweisen der Hauptakteure der verschiedenen Lager schildert. Da ist dieser Philipp Neukamp alias Fei Lipu, der sich auf den Weg in die »Himmlische Hauptstadt« Nanking begibt, um sich ein Bild von der Rebellion und angeblich neuen Religion zu machen, von der ihm Hang Jin, der »Schilderkönig« der Aufständischen, berichtet hat. Aber er gerät mitten hinein in das mörderische Kriegsgeschehen, verliert einen Arm und entkommt nur mit Mühe. Da ist der General Zen Guofan, dessen Armee gegen die Rebellen kämpft und der schließlich dem Kaiserhof gefährlich wird.

Grausam schlägt nun der ehrgeizige englische Sonderbotschafter Lord Elgin mit seiner »Britischen Expedition« (im Verbund mit Frankreich) zu, weil sich der »weltfremde, arrogante« Kaiserhof in Peking dem Diktat der Alliierten nicht beugt. Elgin ist ein Machtmensch, am Ende ist auch er zerrissen und schuldig.

Stephan Thome gelingt es, auch die Schönheit des Landes, etwa die von nächtlichen Flusslandschaften, erlebbar zu machen. Umso grausamer erscheint das Ausmaß der Verwüstungen durch die Barbaren. Ein Wort, das solche Schrecken in China ausgelöst haben muss, dass die Engländer ein Jahrzehnt später den Gebrauch des chinesischen Wortes dafür verboten.

Stephan Thome: Gott der Barbaren. Suhrkamp Verlag, 719 S., geb., 25 €