nd-aktuell.de / 08.10.2018 / Kultur / Seite 16

Tröstlich und trostlos

»Sechs Koffer«, ein Familienroman von Maxim Biller

Robert Best

Im »Spiegel« wurde neulich ein jüdischer Deutscher mit den Worten zitiert, Juden hätten in Deutschland nach dem Holocaust oft einen gepackten Koffer im Schrank gehabt. In den letzten Jahren habe man den getrost im Keller verstauen können, doch derzeit würde sich doch wieder vergewissert, wo genau er sei.

Maxim Billers Roman, der nicht zuletzt von jüdischen Exilerfahrungen handelt, heißt »Sechs Koffer«. Er beginnt im morgenrotdurchfluteten Arbeitszimmer einer Prager Wohnung 1965. Frau und Kinder schlafen. Ein jüdischer Intellektueller übersetzt den vierten Teil des »Schwejk«, sinnt übernächtigt nach einem treffenden russischen Begriff. Da steht sein Sohn im Pyjama in der Tür. Er bittet den Vater, er möge ihn heute zur Schule bringen. Dann fragt er ihn, was es denn mit diesem Onkel Dima auf sich habe, der doch heute aus dem Gefängnis zurückkomme? Ob der den Großvater auf dem Gewissen habe, ja ob sogar der Vater selbst schon jemanden getötet hätte? Der schickt ihn zurück ins Bett. Als das Kind aber immer noch auf der Schwelle steht, schreit er »plötzlich wie von Sinnen ‚Raus, raus!‘«

Liegt es am Kontrollverlust? Schon bald ist es nicht mehr der Vater, von dem exklusiv erzählt wird. Es geht um ein Familiengeheimnis und sechs Blickwinkel darauf - von sechs Mitgliedern der Familie, die Biller, biografisch inspiriert, gleichberechtigt nebeneinander stellt. Sie führen den Leser durch verschiedene Zeiten und an verschiedene Orte, nach Hamburg, Zürich, Berlin und Montreal, immer auf der Suche nach dem Verantwortlichen für den Tod des Großvaters. Der sagenumwobene Sippenfürst wurde vom KGB als Schwarzmarkthändler hingerichtet. Wer hat ihn verraten? War es der »arme, liebe, schwache« Onkel Dima, der dem Neffen »wie ein Mafiaboss« in die Wange kneift und sie tätschelt? Oder seine Frau, die Filmemacherin Natalia? Sjoma Biller, der Vater des Erzählers? Die Mutter, die »weiche, harte Rada«?

Es ist weniger der Krimi-Touch als Billers finessenreiche Erzählweise, die einem den Roman durch die Finger fliegen lässt. Nach 200 Seiten ist schon Schluss, Setting und Personal von »Sechs Koffer« hätten aber das Zeug zur Serie. Vieles ist ausbaufähig. Manche Figur hängt in der Luft, wirkt wie die halbfertige Skizze eines literarischen Denkmals für ihr reales Vorbild.

Biller leuchtet sein generationen- und epochenübergreifendes Panorama episodenweise aus. Es tun sich so Leerstellen und Brüche auf, die in der Geschichte dieser Buchfamilie Biller gründen. Der Großvater blieb als österreichischer Soldat im Ersten Weltkrieg in Russland hängen, einer seiner Söhne als Rotarmist in Berlin. Viele Familienmitglieder wurden von den Nazis ermordet. Auch im Sozialismus der ČSSR gibt es Antisemitismus. »Irgendwann werden wir auch mit euch kosmopolitischem Dreckspack fertig« kriegen die Billers zu hören. Die Flucht der Familie nach Hamburg geschieht nicht zuletzt aus einer Angst, von der manche gehofft hatten, sie gehöre der Vergangenheit an.

Der junge Ich-Erzähler hat eine kindliche oder vielleicht poetische Angst, in der alle anderen Ängste aufgehen und die womöglich nur Kinder richtig verstehen können. Er befürchtet, dass sein Leben eine Geschichte ist, die die Puppenfigur Spejbl ihrem Sohn Hurvínek vorliest und die vorbei ist, sobald Spejbl sein Buch zuklappt. Dass er später als Erwachsener Spejbl und Hurvínek als Figuren im Regal stehen hat, das ist - wie vieles in diesem klug komponierten, berührenden und einfache Lösungen scheuenden Buch - tröstlich und trostlos zugleich.

Maxim Biller: Sechs Koffer, Kiepenheuer & Witsch 2018, 208 S., 19 €