nd-aktuell.de / 12.10.2018 / Politik / Seite 5

Menschenrecht Sanktionsfreiheit

Verbände fordern, dass soziale Rechte unkürzbar sein müssen

Alina Leimbach

Durch mindestens 16 Seiten Anträge müssen sich Menschen derzeit graben, wenn sie hierzulande versuchen, die Grundsicherung Hartz IV zu beantragen. »Anträge, die ohne Kenntnis der Fachbegriffe kaum zu bewältigen sind«, sagte Rainer Timmermann, Sozialberater der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg am Mittwoch vor Journalisten. Dazu kommt: Nur wer sich auch wirklich auf Jobsuche begibt, bekommt den Regelsatz. Ansonsten kann er beim dritten Verstoß gegen die Auflagen des Jobcenters sogar restlos gestrichen werden. »Das ist Armutsstress«, meinte Timmermann.

Dabei ist das Anrecht auf die Leistung ein Grundrecht. Die Würde des Menschen als auch soziale Menschenrechte sind im Deutschland über das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz verankert. Und: Wie der Name schon sagt, soll die Grundsicherung existenzielle Bedürfnisse garantieren. Damit ist nicht bloß das nackte Überleben gemeint. Das Bundesverfassungsgericht urteilte mehrfach dazu und hielt zuletzt 2010 ausdrücklich fest, dass »das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« neben einer gesicherten Existenz auch ein »Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« umfassen muss.

Doch Sozialverbände sehen genau diese Rechte durch die aktuelle Ausgestaltungspraxis von Hartz IV nicht gegeben. »Derzeit werden Hartz-IV-Empfänger nicht als Berechtigte, sondern als Bittsteller gesehen«, kritisierte Claudia Mahler vom Deutschen Institut für Menschenrechte. »Wenn es ein Recht auf Existenzsicherung gibt, dann muss das als solches wahrnehmbar sein.« In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Diakonie und der Nationalen Armutskonferenz forderte sie daher einen vereinfachten Zugang auf die Grundsicherung und unabhängige Beratungsstellen.

Derzeit bekommen rund sechs Millionen Menschen in Deutschland Hartz-IV-Leistungen. Die Gründe dazu sind verschieden. Es sind nicht nur Erwerbslose, sondern auch eine große Zahl von Menschen, die in ihrem Beruf zu wenig verdienen und aufstocken müssen, oder nur im geringeren Umfang arbeiten können.

Die derzeitige Gesetzeslage hält Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz und Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, als unvereinbar mit dem Recht auf eine menschenwürdige Existenz. Zwar werden Sanktionen nicht besonders oft verhängt - laut aktueller Statistik nur in rund zwei Prozent der Fälle -, doch in den letzten zehn Jahren wurden laut Eschen Gelder in Höhe von zwei Milliarden Euro einbehalten. »Das greift ganz wesentlich in die Existenzrechte der Leistungsberechtigten ein.«

Auch die Höhe der Grundsicherung sei zu gering, um soziale Teilhaberechte wahrzunehmen. »Wir bräuchten 150 Euro für Alleinerzeihende und 144 Euro für Paare mehr«, sagte Eschen. Berechnet hat dies die Sozialwissenschaftlerin Irene Becker für die Diakonie.

Auch bei einigen Parteien beginnen sich diese Ansichten durchzusetzen. Die LINKE hat es bereits seit einiger Zeit zur offiziellen Parteilinie erhoben. Kürzlich veröffentlichte nun der Grünen-Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter und der sozialpolitische Sprecher der Partei, Sven Lehmann, ein entsprechendes Papier. Darin orientieren sie sich an der Menschenwürde und fordern als Konsequenz ein von der Arbeitssuche abgekoppeltes, sanktionsfreies Existenzminimum. Die die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles sagte in »Der Zeit« der Agendapolitik den Abschied an: »Wir werden ein neues, modernes Sozialstaatskonzept entwickeln für den ›Sozialstaat 2025‹«. Bis zum Ende des nächsten Jahres will sie dazu Vorschläge entwickeln. Was das konkret beinhalten könnte ist derzeit noch offen. In den letzen Jahren hatte es immer wieder Ankündigungen in dieser Richtung gegeben - ohne echte Konsequenzen.

Die LINKE-Parteivorsitzende Katja Kipping sagte dem »nd«: »Da kommt womöglich etwas in Bewegung«. Für Betroffene wäre es jedoch besser gewesen, wenn diese Einsicht früher gekommen wäre. »Wenn die Sozialdemokraten es ernst meinen, mit ihrem Abschied von der Agenda 2010, muss definitiv Schluss sein mit dem Kleinrechnen des Hartz-IV-Satzes.« Und sie müssten die Sanktionen restlos entsorgen. Kommentar Seite 4