nd-aktuell.de / 27.10.2018 / Politik / Seite 7

Im Namen des Vaters

Am Montag wird die türkische Republik 95 Jahre alt. Gibt es sie eigentlich noch?

Nelli Tügel

Wenn auch vieles unsicher war in der von politischen Krisen immer wieder heimgesuchten Türkei, auf eines war stets Verlass: überall Atatürk, der »Vater der Türken«. In Amtsstuben und Schulen hing sein Bild, auch in vielen Cafés und Restaurants. Riesige türkische Flaggen - Mondsichel und Stern auf rotem Grund - trugen sein Konterfei. In jeder Stadt erinnert ein Denkmal an Mustafa »Kemal« Pascha. Mit dem Anıtkabir-Mausoleum in Ankara wurde ihm eine moderne Pyramide geschaffen. Staudämme, Straßen und Stadien tragen seinen Namen. Ebenso wie der bislang größte Flughafen des Landes, der erste Airport von Istanbul. Der zweite, viel kleinere Flughafen der Stadt - 2001, kurz vor Antritt der ersten AKP-Regierung eingeweiht - wurde nach Sabiha Gökçen benannt, die Kampfpilotin und Adoptivtochter Atatürks war.

Zum 95. Gründungsjubiläum der Republik Türkei am 29. Oktober 2018 ist diese Art von Namens- und Symbolpolitik nicht mehr so selbstverständlich wie in den Jahrzehnten zuvor. Pünktlich zum Tag der Republik soll am Montag der dritte Flughafen von Istanbul eröffnet werden: Viel größer als der Atatürk-Airport, wird er das neue Drehkreuz des Nahen Ostens, zumindest wenn es nach dem Willen der türkischen Regierung geht. Damit die Inszenierung stimmt, wurden tote Arbeiter in Kauf genommen, ein Streik gegen die Bedingungen auf der Baustelle wurde kürzlich niedergeschlagen. Noch ist nicht klar, welchen Namen man dem unter solchem Hochdruck fertiggestellten monströsen Bauwerk geben wird, die Entscheidung darüber obliegt der Regierung. Zwar gibt es Gerüchte, der Name Atatürk könnte vom ersten auf den neuen Flughafen übergehen - sehr wahrscheinlich ist eine solche Referenz an den Kemalismus und damit an die Staatsgründungsideologie der Türkei jedoch nicht.

Niemand, das stellte der im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar fest, hat seit Atatürk über solche Macht verfügt wie Recep Tayyip Erdoğan. »Die neue Ära der Türkei« nannte der Staatssender TRT die Liveübertragung der Zeremonie, mit der Erdoğan nach den Wahlen vom 24. Juni 2018, mit denen auch das 2017 beschlossene Präsidialsystem umgesetzt wurde, sein Amt antrat. Und viele kritische Kommentatoren sehen seit den Juniwahlen gar das Ende der Republik gekommen. Mitunter schwingt darin eine Sehnsucht nach den »guten alten Zeiten« mit, in denen Kemalisten unangefochten die Geschicke des Landes lenkten.

Dabei wird oft übersehen, dass der Kemalismus selbst in den vergangenen Jahrzehnten einige Paradigmenwechsel vollzogen hat. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Erdoğan den Staatsgründer aus der Öffentlichkeit verdrängt. Er tut dies allerdings nicht nur in Abgrenzung zu Atatürks Erbe, sondern auch mithilfe geschickter Adaption. Die Flagge beispielsweise, früher Insignie des Kemalismus, hängt heute an vielen Moscheen im Land. Hier, bei der Ausbreitung des Islam in der Öffentlichkeit, hat Erdoğans AKP tatsächlich ganze Arbeit geleistet und den mit der Gründung der Republik 1923 eingeführten Laizismus - also die Trennung von Staat und Religion - merklich zurückgedrängt. Kopftücher sind heute in öffentlichen Institutionen erlaubt, seit kurzem sogar beim Militär. Im Bildungswesen nehmen die religiösen Imam-Hatip-Schulen einen immer größeren Platz ein. Und seit einem Jahr dürfen islamische Geistliche wieder legale Ehen schließen. Doch gehört auch zur Wahrheit, dass Erdoğans Bewegung bei dieser Islamisierung auf existierende Strukturen zugreifen konnte. Wie auf die Oberste Religionsbehörde Diyanet, die in den 1940ern gegründet worden war oder die Ditib in Westdeutschland, deren Grundstein in den 1980ern gelegt wurde. Gerade die damals die Türkei regierende, dem Kemalismus verpflichtete Junta nutzte Reislamisierungspolitik - als antikommunistisches Instrument.

Auch in anderen Bereichen gibt es auffällige Kontinuitäten zwischen dem, was früher als Kemalismus firmierte und der heutigen »neuen« Türkei. So wurde etwa wirtschaftspolitisch unter der AKP die »Öffnung« nach Westen, die Privatisierung von Staatsvermögen und Schaffung einer »investorenfreundlichen« Umgebung vorangetrieben. Bereits am 24. Januar 1980 hatte allerdings Turgut Özal die neoliberale Wende der Türkei vorbereitet. Mit seinem damals beschlossenen Wirtschaftsprogramm wurde die Abkehr von der in den ersten Jahrzehnten auf extremen Protektionismus und Etatismus setzenden Wirtschaftspolitik eingeleitet, die das - kemalistische - Putschregime nach dem 12. September desselben Jahres und unter Einbeziehung Özals fortsetzte.

Der größte Fehler vor allem des Westens besteht aber darin, den Kemalismus als Demokratiebewegung misszuverstehen. Das war er nie. In ihren ersten Jahren war die Bewegung Atatürks eine, die aus den Trümmern des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat formte - mit äußerster Härte und Gewalt. Wer nun das vermeintliche Ende der Republik versucht an Fragen wie Demokratie, Ein-Mann-Herrschaft oder der Gewährung bürgerlicher Freiheiten auszubuchstabieren, der scheitert an den historischen Fakten. So gab es in den vergangenen 95 Jahren lange autoritäre Regierungszeiten - und nur kurze Jahre der Freiheit, wie Anfang der 1960er, als nach einem Militärputsch gegen Adnan Menderes die bis heute demokratischste Verfassung des Landes Streiks legalisierte und bürgerliche Rechte gewährleistete. So sollte die Unterstützung der Studierenden und wachsenden Stadtbevölkerung im Streit mit der Demokratischen Partei (die damals einzige Gegenspielerin der Republikanischen Volkspartei CHP) gesichert werden. Doch war dies die Ausnahmesituation, nicht die Regel: Schwerer wogen die Jahre der Militärdiktaturen in den 1970er und 1980er Jahren. Und auch Atatürk selbst hatte die Türkei ja als Alleinherrscher umgekrempelt. Bis 1950 gab es keine freien Mehrparteienwahlen in dem Land, bis 1946 war die CHP die einzige Partei im Parlament. Gewerkschaften waren verboten, linke Parteien sowieso.

In Sachen Nationalismus überwiegt ebenfalls die Kontinuität: Zur Gründungsgeschichte der Republik gehört der Völkermord an den Armeniern 1915 bis 1917 - bis heute unaussprechbares Tabu für die meisten Kemalisten. Die brutale Niederschlagung eines kurdischen Aufstandes im Jahr 1925 wurde von Atatürk befehligt. Das Militär, das sich bis zu den Säuberungswellen vor wenigen Jahren als Hüterin des Kemalismus verstand, führte in den 1980er und 1990er Jahren Krieg im kurdischen Südosten. All dies kann Erdoğan einflechten in seine Erzählung und sich so auch bei jenen anschmiegen, die Atatürk nach wie vor verehren.

Natürlich hat Erdoğan die Türkei umgekrempelt. Er hat mehr als Hunderttausend Staatsdiener entlassen, das Militär entkemalisiert, den Laizismus beerdigt. Andererseits konnte er sich in viele gemachte Betten legen. Aggressiver türkischer Nationalismus, die Verfolgung von Minderheiten und Oppositionellen sowie Personenkult sind eben auch genuin kemalistische Traditionen. So überraschend es für die mitleidende Öffentlichkeit des Westens auch sein mag: Noch ist die linke Gewerkschaft DISK legal, unter dem Militärregime in den 1980er Jahren war sie es nicht. Die Todesstrafe, von deren Wiedereinführung Erdoğan heute schwärmt, war erst 2004 von seiner AKP-Regierung abgeschafft worden. Die nun für die Einführung des Präsidialsystems geänderte Verfassung ist im übrigen nicht jene erwähnte demokratische Verfassung von 1961 - sondern die 1982 in Kraft getretene, die die Handschrift der Junta trägt.

Der radikalste Bruch mit dem Erbe Atatürks liegt wohl darin, dass erstmals seit Bestehen der Republik dessen Ideologie nicht mehr als alternativlos verhandelt wird - und damit Atatürk als Landesvater an Bedeutung verliert. Oder wie es eine AKP-Anhängerin vor dem Referendum zum Präsidialsystem im Frühjahr 2017 begeistert in die Kamera rief: »Wir haben Allah, wir haben unseren Propheten - und jetzt Recep Tayyip Erdoğan.« Atatürk kam da schon gar nicht mehr vor.