nd-aktuell.de / 24.11.2018 / Reise / Seite 30

Im dunklen Tann

Am aufregendsten ist der Bayerische Wald bei einer Nachtwanderung mit Wölfen

Jirka Grahl

So schwarz sieht man die Nacht nur selten: Es ist zwar erst 19 Uhr, als unser Auto auf dem einsamen Waldparkplatz zum Stehen kommt, aber es ist stockfinster. Der Motor verstummt, die Scheinwerfer erlöschen, kurz herrscht Schweigen im Auto. Nur der Wind rüttelt an den Scheiben. Ringsum dunkler Tann, keine Sterne, der Himmel verhangen. Düsternis.

Der sonst so vorlaute Siebenjährige will plötzlich nur ungern aussteigen: Sehr gewissenhaft sucht er den Autoboden nach seinen Handschuhen ab. Erst als die Eltern ausgestiegen sind, folgt er hinaus in die Kälte. Atem dampft vor den Mündern, wir stehen mitten im Bayerischen Wald, auf dem Parkplatz des Nationalparkzentrums Lusen. Und längst hat sich das wohlige Frösteln eingestellt, auf das wir vorher spekuliert haben: Nachtwanderung!

Weit hinten im fahlen Licht einer Laterne steht eine einsame Gestalt: Womöglich unsere Verabredung? Wir winken, doch es ist keine Reaktion zu erkennen. Die Silhouette bleibt ohne Regung. Oha. Mutig laufen wir los. Unter unseren Füßen knirscht der Kies, über uns erstreckt sich eine hölzerne Brücke zwischen den ächzenden Zweigen, irgendwo ruft ein Kauz. Tagsüber balgen sich hier die Touristen zu Hunderten um freie Parkplätze, weil sie zwei der größten Attraktionen des Nationalparks Bayerischer Wald bestaunen können: den Baumwipfelpfad, auf dem man das Leben des Waldes auf Höhe der Baumkronen erleben kann, und das Tierfreigelände mit Elch, Luchs und Auerhahn. Wir sind gekommen, weil man hier dem furchteinflößendsten aller Nachttiere begegnen kann: dem Wolf.

Ferne Gestalten

Ein kleines Rudel lebt derzeit hier in einem der Gehege von Deutschlands ältestem Nationalpark, sicher hinter Gittern. Doch wenige Wochen vor unserem Besuch hat jemand in einem 35 Kilometer entfernten Freigelände das Schloss aufgebrochen und dort eine Gruppe Wölfe in die Freiheit entlassen. Der Siebenjährige weiß nichts davon, die Eltern können den Gedanken nicht ganz ausblenden. Wäre ja blöd, wenn ausgerechnet heute ... Am Parkplatz zumindest ist noch kein Wolfsgeheul zu vernehmen, hier herrscht kalte Einsamkeit: Niemand zu sehen, außer uns und der Gestalt unter der Laterne.

Es ist eine Frau mit Hut, jetzt dreht sie sich um und winkt uns lachend zu. Das muss sie sein: Marianne Melcher, Nationalparkführerin, gerade nimmt sie ihr Handy vom Ohr. »Willkommen im nächtlichen Tierfreigehege! Schön, dass ihr da seid.« Jeden Dienstagabend führt Marianne Melcher hier Besucher durch den nächtlichen Wald. Wenn man die ganze Runde dreht, wird es ein Spaziergang vorbei an 40 verschiedenen Tierarten. Meist kommen nicht nur Touristen, auch viele Einheimische sind dabei. »Den Wald des Nachts kennen nur die Wenigsten«, sagt Marianne Melcher. »Auch wenn wir hier leben.« Um so wichtiger sei es jetzt auch für uns, die Gelegenheit zu nutzen und die Sinne zu schärfen. »Bitte die Taschenlampen aus!«, sagt sie zu der Gruppe, die jetzt aus insgesamt drei Erwachsenen und zwei Kindern besteht. »Wir werden auch so genug sehen.«

Schlafende Keiler

Breit angelegt sind die befestigten Wege des sieben Kilometer langen Rundwegs entlang der Tiergehege; jetzt in der Dunkelheit wirken sie beinahe eng. Jeder Schritt ist ein kleines Wagnis. »Lauft einfach weiter, die Augen werden sich an die Dunkelheit gewöhnen!«, sagt die Führerin der Nacht. »Es wird gleich heller! Und zur Not habe ich eine Taschenlampe dabei.«

Wir schreiten ins Dunkle. Weil es so düster ist, nimmt man viel mehr wahr. Es riecht nach Fichte, nach Pilz und ein wenig nach Moder. Inmitten der Bäume haben wir das Gefühl, plötzlich viel besser sehen zu können. Auf einer Lichtung ist sogar ein matter Lichtschein zu erkennen. Der Wind hat Lücken in die Wolkendecke gerissen. Hindurch scheint der Mond. Doch vieles bleibt unheimlich: Immer wieder recken sich mächtige, knorrige Arme nach den nächtlichen Wanderern. Ist das ein Holzhaufen oder ein schlafender Keiler?

Der Siebenjährige fasst die Hand des Vaters. »Papa, gibt es Waldgeister?« Puh, schwierige Frage, hat doch die Waldführerin gerade ausgiebig von jenen Gestalten berichtet, die hier seit Jahrhunderten durch die Berge spuken sollen. Sie führt schon seit fünf Jahren die Besucher durch den Nationalpark und in Sachen Gespenster hat sie sich ziemlich nebulös ausgedrückt. Will ich ihre Glaubwürdigkeit untergraben? Auch sie hört zu. »Ich glaube, Waldgeister gab es nur früher«, lautet die diplomatische Antwort.

Jäger der Nacht

Schon bald erreichen wir das Wisentgehege. Waldführerin Melcher knipst die Taschenlampe an und lässt den Lichtkegel über das Areal schweifen. Da! Reflexionen! Drei Augenpaare nahe einer Buche. Dicht beieinander liegt eine Wisentfamilie und schaut in Richtung Licht. Von einer Taschenlampe lassen sich die Wildrinder indes nicht aus der Ruhe bringen. Sie glotzen und gähnen.

Die Kinder wollen weiter, Wisente sind ihnen ziemlich schnell langweilig geworden. Es geht weiter Richtung Luchs. Wir erklimmen zügig eine Anhöhe, unsere Schritte setzen wir mittlerweile sicher und ohne Zögern. »Stehenbleiben!«, ruft plötzlich unsere Führerin. »Alle mal still sein und lauschen.« Wir halten inne. Und tatsächlich, ein krächzendes Rufen ist zu hören, wie von einer Krähe oder einem Kauz: die Luchse. Zwei Minuten später sehen wir vom Hochstand aus das Männchen durchs Unterholz huschen. Kuder nennt man ihn, das Weibchen heißt Katze. Die beiden haben gerade zwei Junge, die ohne Angst zwischen den Felsen umherspazieren.

Auch unser Nachwuchs ist jetzt furchtloser unterwegs: Der Siebenjährige läuft längst allein voraus, als wir die Voliere der Könige der Nacht erreichen: Ein Uhu-Pärchen sitzt regungslos auf einem Ast. »Um bis zu 270 Grad können Uhus ihren Kopf drehen«, erzählt Marianne Melcher und wir warten gespannt, ob die Vögel uns ihre Beweglichkeit zeigen. Doch die Uhus verharren in absoluter Regungslosigkeit. Wären wir Hasen, würden sie jetzt ihre Flügel auf anderthalb Meter ausbreiten, lautlos angesegelt kommen und uns am Nacken greifen. So aber: nichts.

Wölfe auf der Flucht

Stattdessen sorgt Marianne Melcher für unerwünschte Spannung: »Wisst ihr, vor ein paar Tagen haben Unbekannte in Ludwigstadt sechs Wölfe freigelassen«, sagt sie, »das ist gar nicht weit von hier.« Der Siebenjährige schaut sie mit schreckgeweiteten Augen an, sie erzählt munter weiter. »Zwei Wölfe wurden erschossen, einer betäubt und zurückgebracht, ein anderer wurde leider überfahren. Zwei sind noch auf der Flucht.« Als wir zum Wolfsgehege wandern, läuft der Sohn wieder zwischen seinen Eltern. Links Mama, rechts Papa. Man weiß ja nie.

Am Auslaufgelände angekommen, sieht und hört man indes wenig. Nur Bäume, die sich ächzend im Wind wiegen. Weil nichts passiert, ahmen die Kinder Wolfsgeheul nach: »A-huuuu!« »A-huuuu!« Doch kein Wolf - weit und breit. Marianne Melcher sagt, früher habe sie fast jede Nacht Wölfe jaulen gehört. Sie wohnt nur einen Kilometer vom Gehege entfernt. »Doch heute haben wir hier kein richtiges Rudel mehr, es sind vier Wölfe aus verschiedenen Parks, die hier zusammen leben.«

Ohne Wolfssichtung ziehen wir weiter: Die Elche sind unsere letzte Station, und hier haben wir Glück. Eine riesige Elchkuh steht mit einem Kalb auf der Lichtung und knabbert an einem Ast. Elche fressen bis zu 40 Kilogramm Grünzeug am Tag. »Obwohl Elche gerade in Gefangenschaft viel Futter bekommen, sind sie schwierig zu halten«, sagt Waldführerin Melcher. »Gerade ist der Elchbulle gestorben. Das kleine Kalb ist quasi eine Waise.«

Über einen Wirtschaftsweg geht es schließlich zurück zum Parkplatz - Abkürzung: nur drei Kilometer statt sieben. Bei den Kindern ist alle Anspannung gefallen. Sie überbieten sich beim Nacherzählen der gruseligsten Geschichten, die ihnen einfallen: finstere Gestalten aus Hörspielen oder Untaten eines dunklen Lords aus der Harry-Potter-Saga.

Bei den Autos angekommen, nehmen wir Abschied von Marianne Melcher. Zweieinhalb Stunden Wanderung, das schafft unser Jüngster sonst nie ohne Gemecker oder Genörgel, loben wir die Waldführerin. Die lacht noch einmal, ehe sie mit einem »Servus!« ins Dunkle davonstapft. Wir indes lauschen ein letztes Mal: Ist vielleicht jetzt noch etwas Geheule zu hören? Nein. Schließlich steigen wir ins Auto und rollen zufrieden heim: Es war auch ohne Wölfe aufregend genug.

Infos

Allgemeine Infos: Gibt’s auf der Internetseite der Ferienregion Nationalpark Bayerischer Wald – www.ferienregion-nationalpark.de
Anreise: Von Berlin mit dem Auto etwa fünfeinhalb Stunden, von Leipzig dreieinhalb.
Nachtwanderung: Bis November dienstags Treff am Nationalparkzentrum Lusen, P1 Infopavillon. Preis 5 Euro, bis 18 Jahre frei. Telefonische Anmeldung erforderlich beim Nationalpark unter der Telefonnummer 0800/0776650.
Die Recherche wurde unterstützt von der Ferienregion Nationalpark Bayerischer Wald.