nd-aktuell.de / 26.11.2018 / Berlin / Seite 10

Die Verhältnisse ins Wanken bringen

Der Berliner Mieterverein ist 130 Jahre alt geworden - und wendet sich gegen das «Primat der Ökonomie»

Tim Zülch

170 000 Mitglieder zählt der Berliner Mieterverein (BMV). Damit sei man nach dem Automobilclub ADAC der zweitgrößte Verein der Hauptstadt, freut sich BMV-Geschäftsführer Reiner Wild. Um zwei Prozent jährlich gehe es derzeit nach oben. «Hohe Mitgliederzahlen sind wichtig, denn damit nimmt unser Gewicht in der Politik zu», erklärt Wild am Samstag in der Geschäftsstelle. Mit Bratwürstchen, Suppe und einer riesigen Geburtstagstorte, die Vorstand und Rechtsanwalt Rainer Tietzsch anschneidet und verteilt, wird der 130. Geburtstag des Mietervereins begangen. Rund 100 Gäste sind gekommen.

Dass Mieter gegenüber dem Hauseigentümer oft am kürzeren Hebel sitzen, ist keine neue Erkenntnis. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts zogen im Zuge der zunehmenden Industrialisierung immer mehr Menschen in die Städte. So kam es ab den 1870er Jahren zu einen sehr starken Anstieg der Berliner Bevölkerung, die sich in den folgenden 25 Jahren auf rund 1,5 Millionen mehr als verdoppelte.

Als 1888 der «Verein Berliner Wohnungsmiether» in der Kreuzberger Solmsstraße gegründet wurde, erhielten Mieter meist Verträge mit willkürlichen Klauseln. «Kahlpfändung» bei Mietrückständen oder die Möglichkeit jederzeitiger «Exmission» ganzer Familien aus winzigen Wohnungen waren üblich. Damals kämpfte der Verein vor allem für einheitliche Mietverträge.

Mittlerweile gibt es zwar eine Reihe von Gesetzen zum Mieterschutz, doch besonders in den letzten Jahren habe sich die Situation «massiv verschlechtert», berichtet Wild. «Gerade in den letzten vier bis fünf Jahren hat die Dramatik zugenommen. »Vermehrt fangen die Menschen in unseren Beratungen zu weinen an, weil sie um ihre Existenz fürchten.« Mieterhöhungen seien mittlerweile der Hauptgrund, warum Menschen die Beratung des Mietervereins in Anspruch nehmen. An zweiter Stelle folgen Betriebskostenabrechnungen und an dritter Kündigungen.

Die Veränderung der Wohnungssituation lässt sich auch an den Mitgliederzahlen ablesen. War der Verein im 19. Jahrhundert mit rund 6300 Mitgliedern bereits der größte im Gebiet der späteren Großgemeinde Berlin, blieben die Zuwächse fast ein Jahrhundert lang gering. 1979 zählte man lediglich 13 100 Mitglieder. Erst als zu jener Zeit die Mietpreisbindung abgeschafft wird und Hausbesetzerbewegung entsteht, steigen die Mietgliederzahlen massiv. Eine »hausinterne Revolution«, bei der 1979 die amtierende Geschäftsführung ausgewechselt wird, führt zur Entwicklung eines Mietervereins mit politischem Anspruch. Zehn Jahre später haben sich die Mitgliederzahlen fast verdreifacht.

»Der Mieterverein darf nicht so brav sein«, schimpft heute eine Besucherin, die sich Frieda H. nennt. Ihren richtigen Namen will sie nicht preisgeben. »Ich bin keine Juristin, aber vielleicht könnte man mal einen Volksentscheid machen.« Sie sei selbst von einer Mieterhöhung wegen Modernisierung betroffen, habe bisher Prozesskostenhilfe in Anspruch genommen. Nun überlegt sie, dem Mieterverein beizutreten.

Auf der Jubiläumsfeier zeigt sich auch, was Reiner Wild offen zugibt: »Wir sind in der Mietergemeinschaft gemeinsam alt geworden.« Es gibt wenige Besucher hier, die jünger als 50 Jahre sind. Franziska Schulte hat Anfang des Jahres die Facebook-Seite des Vereins an den Start gebracht. Sie war selbst in einer Mieterinitiative aktiv und ist so zum Mieterverein gekommen. Wichtig ist ihr neben einem besseren Social-Media-Auftritt die Unterstützung von Mieterinitiativen. Anfang des Jahres hat der BMV eine Broschüre herausgegeben: »In 7 Schritten zur aktiven Mieter-Initiative«.

Wild möchte zukünftig auch Online-Beratungstools entwickeln, um die jüngeren Mitglieder besser ansprechen zu können. Nach den Herausforderungen für die Zukunft gefragt, wird Wild grundsätzlich: »Das Primat der Ökonomie ist nicht ausreichend.« Die Politik müsse den Menschen wieder in den Blick nehmen. In dem Sinne gehe es auch um eine »grundsätzliche Neujustierung« des Mietrechts. »Und wir brauchen mehr Kraft, um die Verhältnisse dahingehend ins Wanken zu bringen«, sagt Wild.