nd-aktuell.de / 01.12.2018 / Kultur / Seite 37

In zwei Hände gegeben

Ulrich Grasnick: Poetische Hommage an Marc Chagall

Hans-Dieter Schütt

Wer meint, sein eigenes Dasein wahrhaft deuten zu können, ist in trügerischem Glück gefangen. Wer im Brustton einer Überzeugung klar zu wissen meint, was die Dinge »im Innersten zusammenhält« (Goethe), der hält Anmaßung für Weisheit. Rainer Maria Rilke stellte fest, »dass wir nicht sehr verlässlich zu Hause sind/ in der gedeuteten Welt«.

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Ulrich Grasnick: Fermate der Hoffnung. Hommage an Marc Chagall. Gedichte deutsch/russisch.[1]
Übertragungen Wjatscheslaw Kuprijanow, Irina und York Freitag. Anthea, 122 S., br., 12,90 €.

Der Satz führt zu den Gedichten von Ulrich Grasnick hin. Gedicht und Geheimnis und Chagall - das ist hier schiere Drillingskultur; Poesie arbeitet an der Offenlegung eines besonderen Gesetzes: Die Masse des Unerreichbaren bleibt immer gleich, und Poesie ist nicht erreichbar durch Techniken einer logikverblendeten Aussagekraft. So sind die Verse dieses Buches schöne Abschweifung, schillerndes Verschlüsseln, dunkles Überwältigtsein oder helles Leuchten und Aufblitzen, das einem die Augen öffnet - und schließt. Der Maler Marc Chagall und Ulrich Grasnick - einer der malerischsten deutschen Dichter. Paris und Pirna sozusagen. Immer schon ging Grasnick zu den Gemälden, er liebt den Zyklus, als wandle er durch Galerien. Er hat Chagall in Frankreich besucht, und bereits frühere Gedichtbände (»Liebespaar über der Stadt«, »Hungrig von Träumen«) erzählen die Begegnung mit diesem Jahrhundertkünstler (1887- 1985) als innige Selbsterkundung zwischen den Spannungspolen Natur und Kultur, Bild und Gedanke. Nun eine Sammlung deutsch und russisch - auch mit jüngeren Versen.

Chagalls Kunst ist aus dem Stoff, der in uns gegen das Erschrecken vor der Endlichkeit anlebt. Endlichkeit löst Verzweiflung aus. »In blendenden Scheiben/ mein gefrorener Traum./ Ich hauche mein Leben/ in eine Blume aus Eis.« Wir müssen daher Furcht vor unserer Fantasie haben, die uns dies Unabwendbare einbrennt. Ehr-Furcht aber ist es und Farbigkeit, die einen Ausdruck finden können, um das Schwere in Erträglichkeit umzuwandeln. Vielleicht entstand so Gott; die Literatur entstand auf jeden Fall so, Chagalls Bildwerk auch.

Die Reise - natürlich eine Reise nach Witebsk, hinauf zum Seiltänzer, in die Lüfte zum grünen Geiger (»alles Glück,/ aller Schmerz der Erde/ in zwei Hände gegeben«) - führt durch die Gegenwart, das Erinnern; sie sucht nach Erlösung und durchquert Einsamkeiten. Dabei entsteht ein Gemälde vom kleinen, kühnen Menschen, der das Brüchigste, Flüchtigste feiert: die Existenz und darin die Liebe. Melodiös, schwingend, klagend, gerundet in Rhythmus und Klang.

Die krude Wirklichkeit ist schwächer als ein Gedicht, also neigt sie zu Bosheit und Aggression. Grasnick ruft in Versen zu des Malers Werk jenes Gegengewicht auf, das dem drängend Pressenden der Realität eine federleichte Schwer-Kraft gegenüberstellt. Fideler Fiedler und verlassene Synagoge, Winter und Licht, Spaziergang und Konzert, arabische Nächte und der Weimarer Frauenplan: Jedes Bild - das gemalte wie das der Sprache ist eine Welt wider die bestehende Welt, und der Vers ist ein Bindeglied zwischen den forschen Reden der Vernunft und jenem gebannten Schweigen, wenn es uns ans Leben geht. Also um die Kunst, es zu leben.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783943583991