Seit fünf Wochen demonstrieren in Frankreich die »Gelben Westen« gegen die Regierung Emmanuel Macrons. Die Hauptforderung: Erhöhung der Kaufkraft für Bezieher von Arbeits- und Sozialeinkommen. Am 10. Dezember hat der Präsident erstmals merkliche Zugeständnisse signalisiert, die französische Nationalversammlung stimmte in der Nacht zum Freitag für die Erhöhung der Mindestlöhne, die Rücknahme der Besteuerung mittlerer Renten sowie Steuerfreiheit für Überstunden und Jahresendprämien. Eine Besonderheit der Zugeständnisse ist ihre Finanzierung: Sie sollen vollständig aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. Die Kosten für 2019 liegen bei zehn Milliarden Euro, ein halbes Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts. Eine Rücknahme der Steuergeschenke für Unternehmen und hohe Einkommen ist dagegen nicht geplant.
Dies stellt die EU vor Probleme. Erst im Sommer war ein Defizitverfahren gegen Frankreich eingestellt worden, erstmalig seit einem Jahrzehnt hatte Frankreich 2017 die Neuverschuldung unter die Maastricht-Marke von drei Prozent des BIP gesenkt. Auch 2018 und 2019 sollten die drei Prozent eingehalten werden. Dieser »Erfolg« wird nun durch die Finanzierung von Macrons Zugeständnissen zunichtegemacht. 2019 wird das Defizit auf etwa 3,5 Prozent steigen. Noch nicht einkalkuliert ist dabei die derzeitige starke Abkühlung der Konjunktur. Weiterer Unbill droht, sollten die Ratingagenturen wie angedroht die französische Bonität absenken: Höhere Zinskosten wären die Folge. Inzwischen hat die EU-Kommission signalisiert, dass sie das französische Defizit tolerieren würde - was andere empört. Bei einem Defizit von gut zwei Prozent bedroht die EU Italien mit Sanktionen, während die französischen 3,5 Prozent straffrei bleiben. Das zeigt die Absurdität der Maastricht-Kriterien: Die Verschuldungsquoten der EU liegen zwischen 24 Prozent (Bulgarien), über 64 Prozent (Deutschland) bis 182 Prozent (Griechenland). Strukturell unterschiedliche Länder ausgerechnet in der Verschuldungsfrage gleich zu behandeln ist kontraproduktiv.
Die EU (d. h. Deutschland) sollte sich endlich vom Korsett der »Konvergenzkriterien« befreien - unter ihrem Druck entwickeln sich die EU-Mitglieder alles andere als »konvergent«. Es ist ökonomischer Unfug, die Verschuldung ausgerechnet am Beginn eines konjunkturellen Abschwungs zu reduzieren. Dass Frankreich - unter dem Druck der »Straße« - angesichts sich verschlechternder Konjunkturaussichten dem Konsum 2019 einen (bescheidenen) Impuls geben wird, ist zu begrüßen. Der konservative Ökonom Stéphane Colliac begrüßte die Annullierung der Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel mit der Begründung, »dies würde die Kaufkraft im kommenden Jahr steigern«. Dies gilt in erhöhtem Maße für die von Macron (wider Willen) angekündigten Maßnahmen, die kleinen und mittleren Einkommen mit hoher Konsumneigung zugutekommen sollen. Bei nachlassender Konjunktur ist die Stimulierung des Konsums eine vernünftige Maßnahme aus dem Lehrbuch der keynesianischen Wirtschaftspolitik. Dass der Präsident diesen Effekt nicht beabsichtigt hat, ändert nichts an dessen Sinnhaftigkeit.
Auch in Deutschland ist es höchste Zeit, die Anbetung der »schwarzen Null« zu beenden und zur ökonomischen Vernunft zurückzukehren. Die Wiederaufnahme antizyklischer Wirtschaftspolitik - was jetzt expansive haushaltspolitische Maßnahmen erfordert - würde dazu beitragen, die Entwicklung Europas zu stabilisieren. Sie würde auch einer der Ursachen für die Krise der EU entgegenwirken: den chronischen Ungleichgewichten im Außenhandel, wozu der Überschuss Deutschlands und der Fehlbetrag Frankreichs gehören.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1108646.gelbwesten-keynesianer-wider-willen.html