nd-aktuell.de / 27.12.2018 / Kommentare / Seite 10

Nur ein wütender Volksmob?

Bei den Gelbwesten-Protesten geht es im Kern um die Sehnsucht nach Anerkennung und Dazugehören, sagt Jamila Schäfer

Jamila Schäfer

In den vergangenen Wochen haben in Frankreich Zehntausende Menschen in gelben Westen ihre Wut über die Politik ihrer Regierung auf die Straßen getragen. Sie speist sich aus dem Gefühl, eine abgehobene Regierung aus der Hauptstadt mache Politik gegen die Interessen der ärmeren Bevölkerung. Der Protest der Gelbwesten entzündete sich an den geplanten Erhöhungen der Dieselsteuer, die vor allem Geringverdienende aus den Provinzen treffen würde, die vom öffentlichen Nah- und Fernverkehr abgehängt sind.

Es ist nicht leicht, diese plötzlich aufflammende Bewegung einzuordnen. Es liegen alle Zutaten für eine populistische Agitation auf dem Tisch: Ein geschwächter Präsident Macron, der sich mit einem abgehobenen Politikstil und wirtschaftsliberalen Reformen unbeliebt gemacht hat. Er dient als Feindbild, sozusagen als Stellvertreter für die »korrupte Elite«. Dann eine Bewegung jenseits institutionalisierter Organisierung, die als Projektionsfläche für den »echten Volkswillen« dient und sehr viel, teils über Jahre gärende Wut.

Es ist deshalb kein Wunder, dass der Front National oder die AfD versuchen, die Proteste vor ihren völkischen Karren zu spannen. In ihrer Lesart von gesellschaftlichen Konflikten gibt es nur zwei Gruppen: Ein Volk mit homogenen und legitimen Interessen und eine Elite, die gegen dieses Volk handelt. Diese Vereinnahmung ist gefährlich. Es darf keinen Zweifel geben: Die autoritären Ansätze einiger Gelbwesten sind eine Gefahr, und die Anwendung von Gewalt ist nicht zu rechtfertigen.

Deshalb ist eine bedingungslose Solidarität falsch. Aber wir dürfen uns von der Gewalt nicht den Blick darauf versperren lassen, dass die Wut und der Frust Gründe haben. Es geht um die soziale Frage dieser Zeit. Sie ist eine zentrale Ursache für den Konflikt. Es ist heutzutage leider bis in die politische Linke hinein weit verbreitet, sich vorwiegend oberflächlich damit zu beschäftigen, wie eine Debatte geführt wird, als mit ihrem inhaltlichem Kern. Dabei wäre das beste Mittel gegen populistische Agitation eine politische Analyse, die es schafft, Gefühle wie Angst und Wut als Reaktion auf gesellschaftliche Missstände einzuordnen. Und in einem nächsten Schritt aufzuzeigen, wie diese verändert werden können.

In Bezug auf die Gelbwestenproteste heißt das: Es geht im Kern nicht um eine anti-ökologische Bewegung, sondern um die Sehnsucht nach Anerkennung und Dazugehören. Es läuft einiges schief, wenn die Reichensteuer für Vermögende und gleichzeitig Wohnungszuschüsse für Studierende gestrichen werden und wenn jene, die in den abgehängten, ländlichen Regionen leben, plötzlich höhere Steuern fürs Autofahren zahlen sollen. Wie hoch die Dieselsteuer sein darf, ist nicht die entscheidende Frage für die Lösung sozialer Probleme. Zentral ist die Frage, wie wir eine Gesellschaft gestalten, die die Würde und Freiheit der Menschen zum greifbaren Leitmotiv ihres Handelns macht. Und diese Frage stellt sich nicht nur in Frankreich.

Wir brauchen Investitionen in Infrastruktur und gleichwertige Lebensbedingungen, die das Leben auch in ländlichen Regionen lebenswert machen. Wir müssen für eine soziale Absicherung sorgen, die Menschen unabhängig davon, wo sie arbeiten oder ob sie arbeitslos sind oder Rente beziehen, ein würdevolles Leben ermöglicht.

Auf der anderen Seite müssen wir ein auf Verwertung, Profitmaximierung und Wettbewerb ausgerichtetes Wirtschafts- und Finanzsystem überwinden. Die Zeiten, in denen Politiker*innen, Kapitalanleger*innen, Lobbyist*innen und Unternehmer*innen sich immer wieder dazu hinreißen lassen, demokratische Mitbestimmung, faire Ressourcenverteilung und den Schutz unserer Lebensgrundlagen gegenüber Profitmaximierung aufzugeben, müssen der Vergangenheit angehören.

Weltweit und auch hier müssen Ökologie und Soziales zusammengedacht werden. Es sind ja gerade die Ärmsten der Armen, die jetzt schon massiv unter den Auswirkungen von Smog, Überfischung, Ressourcenknappheit, Dürren und Überschwemmungen leiden und durch die Klimakrise vertrieben werden. Und auch hier in Europa leben jene an den lauten Straßen mit schlechter Luft, die sich keine Villa in der Vorstadt leisten können. Statt die aus Äthiopien geflüchtete Kleinbäuerin dann, wie die Rechten es tun, gegen in Europa aufgewachsene unterbezahlte Angestellte auszuspielen, müssen wir den Anspruch haben, die Versprechen liberaler Demokratien - Freiheit, Gleichheit und Solidarität - konkret und universell einzulösen.