nd-aktuell.de / 07.03.2019 / Brandenburg / Seite 11

Rechte schlagen häufiger zu

Opferverbände legen Zahlen für Berlin und Brandenburg vor / »Hemmschwelle gesunken«

Marie Frank und Andreas Fritsche

Es geschah bei einem Volksfest in Dallmin in der Prignitz. Junge Flüchtlinge aus Afghanistan werden angegriffen, einige von ihnen bewusstlos geschlagen. Doch die Täter lassen nicht von ihren Opfern ab, treten mit schweren Arbeitsstiefeln gegen die Köpfe der Afghanen. »Die Gefahr, bei diesem Angriff eine tödliche Verletzung zu erleiden, war groß«, vermerkt der Verein Opferperspektive. Am Mittwoch legte Geschäftsführerin Judith Porath die neuen Zahlen zu rechter Gewalt in Brandenburg vor. Die Opferperspektive hat für das vergangene Jahr 174 rechte Attacken gezählt. Bei 86 Prozent der Angriffe - also bei 150 Taten - war Rassismus das Motiv. Das ist der höchste Wert, seit die Opferperspektive im Jahr 2001 begonnen hat, Fälle rechter Gewalt zu erfassen.

2017 hatte die Zahl der rechten Gewaltakte bei 171 gelegen. »Schauen wir auf die vergangenen vier Jahre, stellen wir fest, dass eine Normalisierung eingetreten ist. Die Anzahl rechter Gewalttaten ist auf einem konstant hohen Niveau«, sagt Judith Porath. Das sei besorgniserregend. Dabei weiß Porath, dass es eine Dunkelziffer gibt. Ihr Verein kann nur registrieren, was Polizei oder Presse melden und was ihr von Opfern berichtet wird. Bei der Beratung von Opfern stelle sich aber nicht selten heraus, dass diese bereits früher Gewalt erlebt haben, damals aber nicht zur Polizei oder zur Opferperspektive gegangen waren.

Meist trifft es Flüchtlinge, in den Universitätsstädten aber auch Studenten und im Berliner Umland oft auch Menschen mit Migrationshintergrund, die aus der Hauptstadt oder aus Westdeutschland zugezogen sind. Ein Drittel der Taten entfällt auf den Berliner Speckgürtel. Das heißt nach Einschätzung von Opferberater Hannes Püschel allerdings nicht, dass diese Gegend besonders von rechter Gewalt belastet sei, da sich dort die Bevölkerung konzentriert, während andere Teile Brandenburgs viel dünner besiedelt sind. Viele Flüchtlinge versuchen, der Gewalt aus dem Weg zu gehen, indem sie Volksfeste meiden und zu bestimmten Zeiten nicht Bus oder Straßenbahn fahren. Der rassistische Hass lauert aber fast überall.

Auch in Berlin wurden am Mittwoch die Zahlen zu rechten, rassistischen und antisemitischen Vorfällen und Übergriffen vorgestellt. 309 Angriffe registrierte die Opferberatungsstelle Reach Out für das vergangene Jahr - das sind 42 Gewalttaten mehr als 2017. Mindestens 423 Menschen wurden verletzt, gejagt und massiv bedroht, darunter 19 Kinder und 47 Jugendliche. Mit 167 Taten waren über die Hälfte der Vorfälle rassistisch motiviert - ein Fünftel mehr als im Vorjahr.

Sabine Seyb von Reach Out führt das vor allem auf eine Enttabuisierung der Gewalt gegen ausgegrenzte und diskriminierte Bevölkerungsgruppen zurück: »Offensichtlich fühlen sich die Täter durch rassistisch geprägte Diskurse ermutigt, zuzuschlagen.« Das betreffe nicht nur rassistische Gewalt, auch Angriffe gegen obdachlose Personen seien ein zunehmendes Problem. »Gleichzeitig gerät der Bürgermeister von Mitte in die Schlagzeilen, weil er unerbittlich und brutal gegen Menschen, die auf der Straße leben, vorgehen lässt«, sagt Sabine Seyb. Auch die Zahl antisemitischer Straftaten hat sich demnach im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht (von 13 auf 44).

Alarmierend ist dabei, dass die Zahl rassistischer und antisemitischer Angriffe im vergangenen Jahr gestiegen ist, obwohl die rechte Szene in der Hauptsstadt so schwach ist wie noch nie, so Kati Becker von den Berliner Registerstellen, die neben gewalttätigen Angriffen auch andere Vorfälle wie Propagandadelikte und Beleidigungen in allen zwölf Bezirken dokumentieren.

3405 derartige Vorfälle wurden dort im vergangenen Jahr registriert, das sind im Schnitt neun Fälle pro Tag - ein Anstieg um 22 Prozent. Die Zahl der Beleidigungen und Bedrohungen hat sich sogar verdoppelt. Becker führt dies zum einen auf ein durch die politische Kultur verändertes gesellschaftliches Klima zurück, in der die Hemmschwelle für verbale und physische Gewalt gesunken sei, zum anderen auf eine gestiegene Meldebereitschaft in der Zivilgesellschaft.

Die meisten Angriffe finden im öffentlichen Raum statt, also an Haltestellen, Bahnhöfen, Straßen oder öffentlichen Plätzen. Der Bezirk Mitte ist dabei eine Art Hotspot für rechte und antisemitische Gewalt, während LGBTIQ*-feindliche Taten hauptsächlich im Norden von Neukölln geschehen. Aber auch in anderen Bezirken ist rechte rassistische und antisemitische Gewalt erschreckend alltäglich. Wie in Schöneweide, wo Anfang Dezember 21 Orte mit antisemitischen Parolen beschmiert wurden: Auf mehrere Schaufenster wurde »Jude verrecke«, »Jude raus« oder »Stirb Jude« geschrieben.