nd-aktuell.de / 09.03.2019 / Politik / Seite 20

«Die Männer waren die Alten»

Die DDR hatte das Patriarchat nicht abgeschafft, doch war die Hierarchie in vielem flacher: Wie Frauen aus dem Osten die «Wende» erlebten.

Ulrike Wagener

In der DDR gab es keine Frauenbewegung. Daran haben wir nicht gedacht, das war ein Westthema. Wir waren auch so gleichberechtigt.« Mit diesen Worten beendet Johanna ihre Geschichte. Mit ihren 100 Jahren ist sie die älteste von 37 »Ostfrauen«, deren Stimmen in dem Buch »Unerhörte Ostfrauen. Lebensspuren in zwei Systemen« versammelt sind. Die Geschichten der Frauen erscheinen anonymisiert, nur mit ihren Vornamen - bis auf fünf Frauen in Leitungsfunktionen, die im Theorieteil des Buches vorgestellt werden.

In der westdeutschen Narration wird die Frage der Gleichberechtigung im Osten oft als »verordnet« dargestellt. Die hier versammelten Berichte der Zeitzeuginnen stellen dem eine Bandbreite von Perspektiven entgegen, von Frauen, die mit Frauenbewegung nichts am Hut hatten, und solchen, die sich sehr bewusst darüber waren, dass die DDR das Patriarchat eben nicht abgeschafft hatte - aber dennoch der BRD in puncto Frauenrechte voraus war.

Die interviewten Frauen - die meisten haben jeweils 20 Jahre in der DDR und in der BRD gearbeitet - ziehen viel Selbstbewusstsein aus ihrer Erwerbsarbeit und grenzen sich darüber explizit von westdeutschen Frauen ab. Sie waren ihr Leben lang erwerbstätig und ökonomisch unabhängig von Männern. In Westdeutschland sollten Frauen zwar einen Beruf erlernen, dann aber bis zur Selbstständigkeit ihrer Kinder zu Hause bleiben und auch später nur zum Familienunterhalt hinzuverdienen. Die Auswirkungen dieses sogenannten Drei-Phasen-Modells zeigen sich heute in den besonders niedrigen Renten westdeutscher Frauen.

Notwendig für die Erwerbstätigkeit der Frauen war die Kinderbetreuung. Diese wird von vielen der Frauen im Buch als eine der größten Errungenschaften der DDR bezeichnet. Das heben besonders jene Frauen hervor, die später in die alten Bundesländer umgezogen sind. Annelie etwa wurde noch als Studentin Mutter - der Durchschnitt in der DDR lag bei 22 Jahren - und gab ihr Kind mit neun Wochen in die Krippe. »So war es halt«, ist ihr Kommentar dazu, ein - in Varianten - oft gehörter im Laufe des Buches. Nach dem Studium arbeiten beide und der Mann »hat im Haushalt geholfen«. Die Wende beschreibt sie als spannende Zeit, als Prozess, doch die eigentliche Maueröffnung habe sie verschlafen: »Am nächsten Tag bin ich ganz normal zur Arbeit gefahren.« Für sie bedeutete die Wende weniger einen Bruch in ihrer Erwerbsbiografie als für die meisten anderen Interviewten. Denn sie »war damals schon auf dem Absprung zu einem anderen Arbeitsplatz«. Ihr Mann hingegen war von den »Abwicklungsmechanismen« betroffen - er bekam eine Stelle in einer westdeutschen Firma und sie zogen nach München. Dies stellte sie vor eine Herausforderung, denn »das erste Erlebnis war, dass die Unterbringung von Kindern in Krippe und Kindergarten in München und Umgebung keine Normalität war. (...) Auf dem Arbeitsamt sagte ich, dass ich arbeitssuchend sei. Da wurde ich erst einmal darüber aufgeklärt, dass ich gar nicht arbeitssuchend sein könne, weil ich ja dafür Sorge zu tragen hätte, dass meine Kinder betreut werden.«

Doch die Kinderbetreuung war nicht der einzige Vorteil der DDR im Vergleich zur BRD. Denn war auch in Westdeutschland die Gleichberechtigung formal in der Verfassung festgehalten, durften Frauen hier ohne Zustimmung des Ehemanns bis 1962 kein Konto eröffnen und bis 1977 keine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Als geschäftsfähig galten verheiratete Frauen erst ab 1969. Diese repressiven Grundsätze des bürgerlichen Gesetzbuches der BRD kannte man in der DDR nicht. Zudem wurde am 9. März 1972 das »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft« verabschiedet. Demnach konnten Frauen innerhalb von zwölf Wochen über den Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden. Im Gegensatz dazu steht der Schwangerschaftsabbruch in der BRD bis heute im Strafgesetzbuch.

Die soziale Gleichstellung war dennoch nicht erreicht. So verdienten Frauen weniger und waren in hohen Leitungspositionen nur selten vertreten. Dies bemerkte auch Helga Hörz als Jugendfunktionärin im Berliner Glühlampenwerk. Obwohl dort überwiegend Frauen arbeiteten, waren alle Leitungsfunktionen von Männern besetzt. Diese Erfahrung wurde zum Ausgangspunkt für ihre spätere Arbeit in der UN-Frauenrechtskommission »Status der Frau«, wo sie von 1976 bis 1990 die DDR vertrat. Tatsächlich entschieden sich einige der hier vertretenen Frauen auch bewusst gegen Führungspositionen, weil sie die erhöhte Belastung zusätzlich zur Sorgearbeit nicht auf sich nehmen wollten oder nicht in die SED eintreten wollten.

Die »größten Hürden«, rekapituliert Monika bestanden »im privaten Bereich, weil die Männer einfach nicht mithalten können. Sie waren immer noch die Alten geblieben.« So leisteten Frauen neben der Erwerbstätigkeit einen Großteil der Haushalts- und Sorgearbeit - einer Untersuchung des Marktforschungsinstituts der DDR von 1970 zufolge rund 78 Prozent. Sieglinde zitiert dazu treffend ihre Mutter: »Meine Mutter hat immer gesagt: ›Gleichberechtigung haben wir erst dann, wenn ich sagen kann: Ich helfe meinem Mann im Haushalt.‹« Dies war bei keiner der Interviewten der Fall und tatsächlich für viele später der Grund für eine Scheidung.

Das Private war - so könnte man sagen - also auch in der DDR politisch, wenngleich sich die wenigsten der Frauen mit den Belangen der »westlichen« Frauenbewegung identifizierten. Bei allen Schnittstellen - fast alle Frauen haben Kinder, fast alle haben mit der Wende einen Bruch in ihrer Erwerbsbiografie erlebt - stellt das Buch die Vielstimmigkeit der »Ostfrauen« in den Mittelpunkt. Dabei unterscheidet sich ihre Erzählweise nicht weniger als ihr Lebensweg. Und auch wenn einige Perspektiven fehlen - Migrantinnen oder Gegnerinnen des Systems etwa sind nicht vertreten - gelingt es gerade durch die ungefilterte Art des narrativen Interviews, ein vielseitiges und auch sehr intimes Bild der »Ostfrauen« zu zeichnen.

Ellen Händler und Uta Mitsching-Viertel: Unerhörte Ostfrauen. ibidem-Verlag, 288 S., 14,90 €.