nd-aktuell.de / 16.03.2019 / Berlin / Seite 25

Keine Verkehrswende ohne Tram

Berlin will das Straßenbahnnetz ausbauen - in Paris ist das bereits geschehen.

Nicolas Šustr

Wir werden das Streckennetz der Straßenbahn in den nächsten 15 Jahren um ein Viertel ausweiten und die Zahl der Fahrzeuge um 40 Prozent erhöhen. Damit wollen wir Berlin fit machen für die Zukunft«, sagt die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne). Sie ist an diesem Mittwoch zu Gast beim ersten von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) ausgerichteten Straßenbahnkongress. Unter dem Motto »Weichen in die Zukunft« beschäftigen sich rund 170 Teilnehmer mit der Frage, wie die wachsende Stadt bewegt werden soll. In ihrem Koalitionsvertrag hat der 2016 angetretene rot-rot-grüne Senat festgehalten, dass dies mit der Tram geschehen soll. »Die Straßenbahn ist leistungsstark, relativ günstig zu bauen, attraktiv und zuverlässig, bietet einen hohen Komfort und hohe Verkehrssicherheit«, begründet dies die Senatorin.

Knapp 90 Kilometer neue Strecken sollen bis 2035 laut dem kürzlich beschlossenen Nahverkehrsplan in der Hauptstadt entstehen. Die Schienenstränge sollen dann bis tief in den Westen reichen. In Gebiete, die 1967, mit der Einstellung der Straßenbahn in West-Berlin, den Anschluss verloren hatten. 3,3 Milliarden Euro sollen in neue Linien, Fahrzeuge und zusätzliche Depots fließen. Im Durchschnitt sechs Kilometer neue Strecke müssen dafür pro Jahr gebaut werden.

»Das, was sich der Senat im Nahverkehrsplan vorgenommen hat, wird mit der jetzigen Kapazität bei Planern und Behörden überhaupt nicht zu realisieren sein«, sagt Christfried Tschepe, Vorsitzender des Berliner Fahrgastverbands IGEB in dem Forum zum Thema Planungsbeschleunigung. »Es bräuchte mindestens eine Verdopplung oder Verdreifachung der Stellen.«

Zum Vergleich: Seit 1995 wuchs das Netz um nicht einmal einen Kilometer pro Jahr auf nun 193,6 Kilometer. Neben den lange Zeit sehr beschränkten Haushaltsmitteln lag das auch in politischem Unwillen begründet.

Ein bisschen ist das auch in der aktuellen Regierungskoalition zu spüren. 15 Kilometer des Ausbauprogramms stehen unter dem Vorbehalt, ob es auf drei Abschnitten nicht doch lieber eine U-Bahn werden soll. Teile der SPD inklusive des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller hatten lange genug gedrängelt, bis zumindest die Prüfung dieser Vorhaben in den Plan aufgenommen wurde. Dabei sprechen finanzielle Aspekte und die sehr langen Realisierungszeiträume gegen neue Tunnel. Die zusammengenommen neun Kilometer U-Bahnstrecke sollen nach ersten Schätzungen über 1,4 Milliarden Euro kosten - fast genauso viel wie die vorgesehenen 90 Kilometer Straßenbahn.

Doch es ist nicht nur der Personalmangel, der die ehrgeizigen Tram-Ausbaupläne gefährdet. »Es ist die Verwaltung, die die Pläne ausbremst«, sagt Wulf Heineking-Fürstenau, oberster Straßenbahnplaner der BVG. »Es ist dokumentiert, dass die meisten Einwände gegen unsere Vorhaben aus der Verwaltung kommen«, erklärt er. Da gewinne man zunächst den Eindruck, alle Fragen in einem Planfeststellungsverfahren seien geklärt, dann käme die Behörde auf einmal mit einer »Neubewertung der Versiegelung von Grünflächen bei Rasengleisen« um die Ecke. Ein Planer eines Ingenieurbüros bestätigt: »Man war der Meinung, man hat einen Kompromiss gefunden, aber dann fällt die Verwaltung in ihre alte Position zurück.«

In Hamburg ticken die Uhren anders. Olaf Weinrich von der Hamburger Hochbahn (HHA), berichtet, dass 2016 mit der Planung einer U-Bahnverlängerung um 2,7 Kilometer begonnen wurde. »Wir werden dieses Jahr anfangen zu bauen«, so Weinrich. Ein für Berlin unvorstellbares Tempo. Frühzeitige Gespräche, in denen die Behörden schon vorab auf kritische Punkte und mögliche Lösungswege hinweisen, seien für schnelle Verfahren essenziell, erklärt Weinrich.

Zu autoorientiert und zu wenig serviceorientiert sei die Verwaltung in der Hauptstadt, bestätigen mehrere BVG-Mitarbeiter. »Die Politik muss die Verwaltung mitnehmen«, sagt Heineking-Fürstenau. »Wenn ein Bezirksamt sagt, erst im Planfeststellungsverfahren Stellung nehmen zu wollen, dann sind sie ausgeliefert.« So geschehen bei der geplanten Tramverbindung vom Bahnhof Schöneweide in die Wissenschaftsstadt Adlershof in Treptow-Köpenick.

Wäre die schwarz-grüne Koalition in Hamburg 2011 nicht vor Ende der Legislaturperiode zerbrochen, hätte auch die Hansestadt inzwischen wieder eine Straßenbahn. »Wir waren sehr schnell in der Planung, dreieinhalb Jahre nach dem Auftrag des Senats waren wir schon in der Planfeststellung«, berichtet Weinrich. Doch dann wurde der heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) Erster Bürgermeister und stoppte das Projekt als erste Amtshandlung. »Weil die Straßenbahn so teuer ist, bauen wir jetzt U-Bahn«, kommentiert das der Hamburger Planer sarkastisch. 465 Millionen Euro sollen die 2,7 Kilometer unterirdische Strecke kosten.

Dabei liegt die Straßenbahn weltweit im Trend. Allein 2018 wurden laut dem Internationalen Verband UITP 311 Kilometer Neubaustrecke eröffnet. »In Frankreich haben wir in rund 30 Jahren 30 Milliarden Euro für fast 30 neue Netze investiert«, berichtet Yo Kaminagai, Chefdesigner der Pariser Verkehrsbetriebe RATP. »Das sind fast chinesische Verhältnisse«, schwärmt er. Seit 1992 wurde in der französischen Hauptstadtregion ein 114 Kilometer langes Netz aufgebaut. »Ihr baut nicht nur eine Straßenbahn, sondern ihr gebt der Stadt ein neues Antlitz«, unter diesem Motto müssten die Projekte angegangen werden, fordert Kaminagai. In Frankreich ist das tatsächlich so. Es werden Rasengleise angelegt, schicke Wartehäuschen entworfen, auch die Züge sollen besonders aussehen. Vor allem wird dem Autoverkehr rigoros Platz weggenommen. Bisher gleichen in Deutschland Neubauten oft eher Eisenbahnstrecken, die direkt durch die Stadt geschlagen werden - mit geschottertem Gleisbett und sehr dominanter Oberleitungstechnik ohne großen Gestaltungswillen.

Für die Neuköllner Sonnenallee, auf der ab 2035 die neue, rund 14 Kilometer lange Straßenbahnverbindung vom Potsdamer Platz bis zum Bahnhof Schöneweide den überlasteten und chronisch verspätungsanfälligen Bus M41 ersetzen soll, gibt es schon einen Entwurf für eine radikale Neugestaltung. Aus der jetzigen Auto- und Parkplatzwüste soll ein Boulevard mit begrünten Gleisen, breiten Fahrradwegen und Bürgersteigen werden. Und für Autos zum Teil Einbahnstraße werden. So zumindest sieht es ein Entwurf von Studierenden des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin vor, der auf dem Kongress gezeigt wird.

»Mehr Lebensqualität bekommt man nur mit einem gut ausgebauten Öffentlichen Personennahverkehr«, sagt BVG-Chefin Sigrid Nikutta. »Die Aufgabe, neue Straßenbahnstrecken in der Stadt zu bauen, ist eine der schönsten«, fügt sie hinzu. Und sie lohnt sich für die Verkehrswende.