nd-aktuell.de / 20.03.2019 / Kultur / Seite 46

Diagnose und Therapie

Werner Röhr nimmt linke Stalinismus-Kritiken unter die Lupe

Stefan Bollinger

Die Geschichte linker Politik an der Macht ist auch eine Geschichte des Versagens, der Irrwege und Verbrechen. Davon kommen Linke, die es mit ihren Idealen ernst meinen, nicht los. Das Versprechen, sich nie wieder zu vergaloppieren, ist selbstverständlich, reicht aber nicht.

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Werner Röhr: Der gelbe Nebel. Drei Studien zur jüngeren marxistischen Stalinismuskritik.[1] Edition Ost, 228 S., br., 15 €.

In der linken, auch marxistischen Diskussion hat sich der Begriff vom Stalinismus eingebürgert, um die Phänomene einer terroristischen Herrschaftsausübung, der Unverhältnismäßigkeit der Machtmittel zu fassen, vor allem in den Hochzeiten Stalins in den 1930er/40er Jahren sowie unter Mao in den 50ern. Gleichzeitig umschreibt dieser Begriff aber auch Strukturen, die nicht nur in den Jahren des Terrors verhängnisvoll wirkten und mit einem umfassenden administrativ-zentralistischen System, einer allmächtigen, unfehlbaren Partei und einem engen, autoritären Führungszirkel verbunden sind. Sondern auch mit einem überbordenden Sicherheitswahn und einem Wahrheitsmonopol einer nicht hinterfragbaren Ideologie.

Diese Merkmale kennzeichneten den Realsozialismus noch Jahrzehnte nach Stalin und Mao. Sie geben aber nur ein grobes Raster ab, denn sie befanden sich im stetigen Wandel, wirkten mal schwächer, mal stärker. Sie ermöglichten mitunter Reformen von oben und Akzeptanz von unten. Der Anspruch, Politik für den Arbeiter und die Bäuerin zu gestalten, schien oft glaubwürdig. Und tatsächlich verbesserte sich vielfach die Lebenslage von Millionen Werktätigen.

Werner Röhr, DDR-sozialisierter Weltkriegs- und Faschismushistoriker, hat sich dreier Stalinismuskritiken der Nachwendezeit angenommen und sie auf ihre Tragfähigkeit und Schlüssigkeit geprüft: Der 2006 verstorbene Akademiehistoriker Wolfgang Ruge rechnete radikal mit dem stalinistischen Regime als terroristischem Machtsystem ab. Für ihn war dieses tief in der russischen Geschichte verwurzelt und mit der asiatischen Despotie verknüpft. Er machte nicht nur Stalin, sondern auch Lenin für Fehlentwicklungen und Verbrechen verantwortlich. Mit Sozialismus hatte das gegebene System für Ruge nichts zu tun.

Der DDR-Philosoph Alfred Kosing hingegen sieht im sowjetischen System einen unterentwickelten Sozialismus und kritisiert Vereinseitigungen der marxistisch-leninistischen Interpretation der Theorie der neuen Gesellschaftsordnung. Er meint aber auch, dass jene trotz aller Deformationen Ansätze für eine progressive Weiterentwicklung hin zu wahrer Gerechtigkeit und Gleichheit beinhaltete.

Jenseits dieser praktisch-historischen und philosophischen Analysen hat Bernhard H. Bayerlein, ein westdeutscher Historiker, mit umfangreichen Quelleneditionen, insbesondere zur Geschichte der Komintern, den Blick vom sowjetischen Phänomen auf transnationale Prozesse gelenkt. Sein besonderes Verdienst besteht darin, die internationale kommunistische Bewegung stärker einzubeziehen, die sich der sowjetischen Machtlogik nicht zu entziehen vermochte und doch auch Besonderheiten aufwies. Bayerlein bietet jedoch keine eigenständige Theorie zur Analyse des Stalinismus.

Röhr wiederum charakterisiert den Stalinismus - in Anlehnung an ein Märchen von Alexander Wolkow, »Das Zauberland« - als »gelben Nebel«. Dieser »verätzt die Augen und vergiftet die Lungen von Mensch und Tier«; der Fluch kann nur aufgehoben werden, wenn die Urheberin, die Hexe Arachna, besiegt wird. Der gelbe Nebel steht für eine »alles durchdringenden Vergiftung der Gesellschaft«. Das zwingt zu schonungsloser Diagnose und radikaler Therapie. Röhr betont, dass »die weltweite Stalinismus-Forschung ... nicht abgeschlossen« sei.

Nach Meinung des Rezensenten müssen stärker als bisher die Interaktionen des inneren und äußeren Klassenkampfes respektive der internationalen Systemauseinandersetzung untersucht werden. Verhärtungen und Deformationen im sogenannten realen Sozialismus haben natürlich mit den unreifen Bedingungen der - wie es Lenin nannte - »halbasiatischen Barbarei« Russlands zu tun, aber eben auch mit der Härte eines Bürger- und Interventionskrieges, der den ersten sozialistischen Staat der Welt lange belastete. Diese Tatsache wurde jedoch zur Rechtfertigung einer letztlich nicht mehr den Massen vertrauenden und nicht mehr auf sie bauenden Politik genutzt. Repressionen wurden als Mittel, die den Zweck heiligen, sanktioniert. In feindlicher Umklammerung gedeihen Demokratie und Öffentlichkeit kaum.

Über Stalinismuskritik nachzudenken und zu diskutieren, schließt ein, auch die Probleme einer pauschalen, oberflächlichen antistalinistischen Politik zu reflektieren. Stalinismuskritik verlangt ebenso, danach zu fragen, was den real existierenden, unbefriedigenden Sozialismusversuch zum Untergang brachte, wie zu erleben war. Nur so ist Kraft für einen organisatorischen und inhaltlichen Neubeginn zu gewinnen, kann ein erneuter, demokratisch-sozialistischer Aufbruch mit größeren Chancen als bislang gewagt werden.

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