Die Apokalypse wird vertagt

Das Ende der territorialen Herrschaft des »Islamischen Staates« ist nicht das Ende des Jihadismus. Strategisch klügere Kräfte werden nun wohl wieder an Einfluss gewinnen.

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 6 Min.

Das von den Christen des Nahen Ostens übernommene Drehbuch wurde ein wenig umgeschrieben, folgt aber im Kern der Offenbarung des Johannes: Wenn Despotie, Krieg, Not und Ungerechtigkeit ein unerträgliches Ausmaß angenommen haben, wird ein großer Anführer kommen, um die wahren Gläubigen in die Entscheidungsschlacht zu führen, der die Erlösung der Menschheit folgt. Im sunnitischen Islam ist es der Mahdi, der Rechtgeleitete, der die Gläubigen anführt, und der Ort der Entscheidungsschlacht ist nicht Megiddo, sondern Dabiq, ein Dorf im Norden Syriens, das derzeit unter türkischer Kontrolle steht.

In der islamischen Geschichte spielte das apokalyptische Denken eine deutlich geringere Rolle als als in der christlichen Welt - bis Jihadisten diese Idee für sich entdeckten. Auch islamistische Theologen mahnen, dass nur Gott den Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts kenne, doch viele Jihadisten wollen nicht warten, bis der Allmächtige endlich zur Sache kommt. Sie betrachten sich selbst als Akteure im Heilsplan. Im schiitischen Iran gilt die Apokalyptik nunmehr als legitimer Zweig der Wissenschaft, doch vorsichtigere Ayatollahs sind - soweit ersichtlich mit Erfolg - bemüht, den Einfluss dieser Fraktion gering zu halten. Denn die Apokalypse bringt die Verpflichtung zur militärischen Eskalation mit sich, und auch ein so aggressives Regime wie das iranische will sich Handlungsspielraum erhalten. Zudem ist die Apokalyptik ein All-in-Spiel - bleibt der Weltuntergang aus, hat man keine Chips mehr auf der Hand.

Anhänger des »Endkampfes«

Ähnliche Überlegungen wie die der Ayatollahs leiteten die Führung von Al-Qaida, der Terrororganisation, aus der der »Islamische Staat« (IS) hervorging. Die Vorstellung, man befinde sich in einem Endkampf, hatten auch Osama bin Laden und seine Anhänger, doch waren sie dessen Dauer betreffend vorsichtig und rechneten mit Jahrzehnten, vielleicht Generationen. Die Anschläge vom 11. September 2001 zielten auf Eskalation und waren mit der Hoffnung verbunden, in Afghanistan einen dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergleichbaren Niedergang der USA bewirken zu können. Doch war man vorsichtig genug, sich Rückzugsgebiete zu sichern. Ayman al-Zawahiri, seit dem Tod Osama bin Ladens Anführer von Al-Qaida, lebt noch immer im Untergrund.

Eine solche Strategie erfordert allerdings taktische Bündnisse und Rücksichtnahmen, etwa auf die Interessen des pakistanischen Geheimdiensts ISI, aber auch das Ausmaß des Terrors gegen die Bevölkerung betreffend. Davon wollte Abu Musab al-Zarqawi, Anführer von Al-Qaida in Irak, nichts wissen. Im April 2006 posierte er in einem Video mit einem Maschinengewehr, einer deutlich größeren Waffe als bin Ladens Kalaschnikow, mit der er in einer Art jihadistischem Schwanzvergleich dessen Führungsanspruch in Frage stellte. Bin Laden hatte gemahnt, Zarqawi möge doch über dem Massakrieren von Schiiten den Kampf gegen die US-Truppen nicht vergessen. Doch für Zarqawi waren die Schiiten die gefährlicheren Feinde, da sie sich als Gläubige tarnten. Auch dies ist Teil des apokalyptischen Denkens. Errettet werden keineswegs alle Anhänger der »richtigen« Religion. Die letzte Schlacht geht einher mit einer großen Säuberung, die nur die Elite der »wahren Gläubigen«, überlebt. »Dabiq«, von 2014 bis 2016 das englischsprachige Online-Magazin des IS, urteilte: »Heute sind die Menschen wie 100 Kamele, unter denen man fast kein einziges findet, das als Reittier geeignet ist.«

Als der Funke zündete

Zarqawi starb im Juni 2006 bei einem US-Bombenangriff, einige Jahre später schien Al-Qaida in Irak besiegt. »Dabiq« schrieb Zarqawi die Aussage zu: »Der Funke wurde im Irak entzündet, und seine Hitze wird - mit der Erlaubnis Gottes - immer mehr steigen, bis er die Armeen der Kreuzfahrer in Dabiq verbrennt.« Anfangs gelang dem IS ein spektakulärer Siegeszug, dessen Hintergründe noch nicht geklärt sind. Das vollständige Versagen der irakischen Armee, die den Jihadisten sogar ihre Waffen überließ, deutet darauf hin, dass der IS dort Verbündete hatte, die in ihm eine arabisch-sunnitische Interessenvertretung sahen. Sicher ist, dass zahlreiche ehemalige Ba’athisten, Kader der Regierungspartei Saddam Husseins und vor allem des Geheimdienstes, zum IS überliefen.

Am 29. Juni 2014 rief der IS, der nun weite Gebiete in Irak und Syrien kontrollierte, das Kalifat aus. Sein Anführer Abu Bakr al-Baghdadi nahm damit in Anspruch, als »Kalif Ibrahim« Befehlshaber aller Muslime, inklusive der alten Al-Qaida-Führung, zu sein. Man gab sich große Mühe, ideologische Kompromisslosigkeit zu demonstrieren, vor allem durch die Einführung der Sklaverei. Die einzigartige und im Internet eifrig beworbene Möglichkeit, sich »legal« Sexsklavinnen halten zu können, dürfte manchen Macho mit dürftigen Korankenntnissen zum Anschluss an den IS bewogen haben. Seine Anziehungskraft über islamistische Kreise hinaus hatte der IS aber wohl vor allem der Apokalyptik zu verdanken haben. Die Vorstellung, sich in eine gewaltige Schlacht werfen und für eine vermeintlich höhere Sache ungehemmt morden und foltern oder mit einem großen Knall als Selbstmordattentäter abtreten zu können, faszinierte viele potenzielle Gewalttäter und bewog sie zur Reise nach Syrien - oder zu Anschlägen in ihren Ländern.

Das aber funktionierte nur, solange der IS auf der Siegerstraße war. Stillstand kann es für eine apokalyptische Bewegung, die den baldigen Endkampf verspricht, nicht geben. Erste Rückschläge konnten noch als Prüfung Gottes interpretiert werden, doch nachdem sich die Front gegen den IS formiert hatte, ging es stetig bergab. Im Herbst 2016 wurde der IS aus Dabiq vertrieben, das Herrschaftsgebiet schmolz dahin, bis Ende März Baghuz in Syrien, die letzte Ortschaft unter IS-Kontrolle, befreit wurde. Der Verbleib des »Kalifen« ist unklar, aber auch kaum noch von Interesse, da er in seiner angemaßten Rolle versagt hat.

Doch nicht nur der plötzliche Aufstieg des IS nach der Zerschlagung von Al-Qaida in Irak mahnt zu Vorsicht. Die konfessionelle Spaltung in Syrien und in Irak treibt sunnitisch-jihadistischen Gruppen Anhänger zu, vor allem wenn die schiitisch-jihadistischen, überwiegend von Iran geführten Gegner überlegen oder in der Offensive sind. Eskaliert die Spaltung zum Bürgerkrieg, sind sunnitische Zivilisten oft gezwungen, sich unter den Schutz einer bewaffneten sunnitischen Gruppe zu stellen, um ihr Leben zu retten. In Irak hat sich die Lage gebessert, in Syrien hingegen sind die proiranischen Unterstützer des Regimes weiter auf dem Vormarsch.

Jihad im Bürgerkrieg

Sunnitisch-jihadistische Gruppen werden daher weiterhin als Schutzmacht »ihrer« Bevölkerungsgruppe auftreten können. Dies dürfte nun vornehmlich den Al-Qaida angeschlossenen Gruppen nutzen, deren Einschätzung, dass die Ausrufung eines Kalifats verfrüht war, sich als richtig erwiesen hat. Das gilt auch für die zahlreichen jihadistischen Gruppen außerhalb des Nahen Ostens, die sich nach 2014 entscheiden mussten, ob sie weiter zu Al-Qaida halten oder dem »Kalifen« folgen sollten.

Die zentrale Strategie ist es, sich in Bürgerkriegsgebieten als bewaffnete Kraft zu etablieren. Von einer solchen Basis aus kann der globale Jihad geführt werden, möglich ist aber auch ein Griff nach der Regierungsmacht im geeigneten Moment. Es ist denkbar, dass einige Gruppen nach dem Vorbild der Taliban die Verständigung mit dem Westen suchen, wenn im Gegenzug für eine Abkehr vom globalen Jihad ihre Terrorherrschaft akzeptiert wird. Diese Tendenz zeigt sich derzeit in Syrien, Mali und Jemen, sollte aber nicht mit Mäßigung verwechselt werden. Weiterhin gibt es ein globales Netzwerk ideologisch gefestigter jihadistischer Kader, die sich auf einen langfristigen Kampf eingestellt haben.

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