nd-aktuell.de / 23.04.2019 / Brandenburg / Seite 11

SS-Täter als Opfer hingestellt

Umgang der BRD-Justiz mit den im KZ-Sachsenhausen verübten Verbrechen aufgearbeitet

Andreas Fritsche

Das Lernen ist dem SS-Oberscharführer Wilhelm Schubert nie leicht gefallen, aber er hatte auch keine Lust dazu. Die KZ-Häftlinge nennen ihn »Pistolen-Schubert«, weil er oft mit seiner Waffe herumfuchtelt und nicht zögert, abzudrücken. So schießt er nachts zuweilen unvermittelt durch Fenster in die dunklen Baracken. Selbst seine Kameraden von der SS glauben, dass Schubert, der sich schwer beherrschen kann, einen Knall hat. Als im Herbst 1941 sowjetische Kriegsgefangene nach Sachsenhausen gebracht und innerhalb einiger Wochen mindestens 10 000 von ihnen erschossen werden, bemüht sich der SS-Oberscharführer, möglichst viele von ihnen eigenhändig umzubringen. 1942 passt sein unkontrollierter Sadismus nicht mehr ins Konzept. Wegen des Scheiterns der Blitzkriegsstrategie soll nun rücksichtslos die Arbeitskraft der Häftlinge für die Rüstungsindustrie ausgenutzt werden. Brutal antreiben lautet jetzt die Devise, nicht mehr nach Lust und Laune brutal ermorden. Schubert kann sich nicht anpassen und wird er zu einer Gebirgsjägerdivision der Waffen-SS in Jugoslawien versetzt.

Vor exakt 74 Jahren, am 22. und 23. April 1945 erreichten sowjetische und polnische Truppen das Konzentrationslager und befreiten dort rund 3000 von der SS zurückgelassene Häftlinge.

Wilhelm Schubert gehört zu den wenigen Tätern aus Kommandantur und Wachmannschaften, die nicht ungeschoren davonkamen. 1947 von einem Sowjetischen Militärtribunal zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, verbrachte er zehn Jahre im Arbeitslager Workuta. Als Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) 1955 bei einer Reise nach Moskau dafür sorgte, dass die deutschen Kriegsgefangenen heimkehren dürfen, wurde auch Schubert in den Zug gesetzt - allerdings als einer der nicht amnestierten Kriegsverbrecher.

Es war nicht abgesprochen, dass diesen Verbrechern in der Bundesrepublik die Freiheit geschenkt wird. Die Politik zeigte wenig Interesse, die Zusagen einzuhalten. Aus Angst vor einem Skandal wurden dann zwar längst nicht alle, so doch einige Täter vor Gericht gestellt - Wilhelm Schubert 1959 in Bonn, wo er wieder eine lebenslängliche Haft aufgebrummt bekam. Erst 1986 wurde er begnadigt. Er lebte noch bis 2006 und blieb bis zuletzt ein Nazi. In seiner Wohnung in Solingen hingen Fotos über dem Sofa. Sie zeigten Adolf Hitler, Hermann Göring und Schubert selbst in SS-Uniform. »Hitler war ein großer Mann«, soll er noch ein Jahr vor seinem Tod unbeirrt geäußert haben.

Stephanie Bohra hat ihre Dissertation über die Strafverfolgung der im KZ Sachsenhausen verübten Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland geschrieben. Ihr Doktorvater war der kürzlich in den Ruhestand getretene Gedenkstättenleiter Professor Günter Morsch. Unter dem Titel »Tatort Sachsenhausen« erschien die Dissertation jetzt als Buch im Metropol-Verlag.

257 Ermittlungsverfahren hat es gegeben, das letzte wurde 1996 eingestellt. 1988 wurde Otto Kaiser als der letzte der verurteilten Täter entlassen. 1970 hatte das Landgericht Köln ihn und weitere Männer wegen mehrfachen Mordes an Häftlingen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Es war der letzte Prozess, der in der Bundesrepublik gegen SS-Männer wegen ihrer Verbrechen in Sachsenhausen geführt worden war. Das letzte Ermittlungsverfahren gegen einen Sachsenhausener SS-Mann wurde 1996 eingestellt. Betroffen war Helmut Bärwald, ehemaliger Kommandoführer der Strafkompanie.

Wenn man bedenkt, dass mit den Jahren allein 1000 SS-Männer in der Kommandantur beschäftigt waren, die Wachtruppe also noch gar nicht mitgerechnet, so wird klar, dass die übergroße Mehrzahl es niemals mit der Justiz zu tun bekam. Freilich waren etliche noch im Krieg umgekommen oder sie waren untergetaucht. Doch eine große Zahl führte unbehelligt ein beschauliches Leben als sei nichts geschehen.

Viel spricht für die Vermutung, dass die mangelhafte Strafverfolgung damit zu tun hatte, dass viele der verantwortlichen Juristen ihren Beruf schon in der Nazizeit ausübten und deshalb milde gestimmt waren. Einen wissenschaftlichen Beweis dafür hat Stefanie Bohra im Rahmen ihrer Dissertation allerdings nicht erbringen können. Auffällig ist immerhin, dass sogar die ersten Leiter der der eigens zur juristischen Aufklärung von Naziverbrechen eingerichteten Zentralen Stelle Ludwigsburg und der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln eine Nazivergangenheit hatten.

Zu der in Köln ist allerdings anzumerken, dass der dort mit dem Tatkomplex Sachsenhausen befasste Staatsanwalt Kurt Pfeufer sehr engagiert ans Werk ging. Der junge und unbelastete Staatsanwalt kooperierte bei der Suche nach den Tätern vertrauensvoll mit dem bundesdeutschen Sachsenhausen-Komitee und zeigte keine Scheu, sich mit den Kommunisten in diesem Opferverband abzustimmen. Nach dem KPD-Verbot von 1956 war das heikel. Doch Pfeufer ließ sich nicht beirren. Nachdem Kommunisten versucht hatten, bei Bundestagswahlen als Unabhängige anzutreten, wurde ihnen der Prozess gemacht und einem der kommunistischen Sachsenhausen-Überlebenden drohte deswegen eine Haftstrafe. Damals schrieb Pfeufer eine entlastende Stellungsnahme, in der er auch darauf hinwies, welch schlechtes Licht das auf die BRD werfen würde, wenn ein Überlebender wegen seiner kommunistischen Überzeugung ins Gefängnis gesteckt wird, während viele Naziverbrecher frei herumlaufen.

Auch zur DDR-Generalstaatsanwaltschaft hielt Pfeufer Kontakt. Er stellte ein extra Fahndungsbuch zusammen und bemühte sich damit erstmals, so umfassend wie möglich alle in Frage kommenden Täter zu erfassen. Infolgedessen informierte das DDR-Ministerium für Staatssicherheit im Juni 1968 die Generalstaatsanwaltschaft, dass acht Gesuchte in der DDR leben, darunter Helmut Bärwald. Keiner von ihnen gehörte im Lager zu den SS-Größen. Mit Sicherheit hat das MfS ermittelt, denn für den Komplex Kriegsverbrechen war es anstelle der Kriminalpolizei zuständig. Womöglich wurden die acht Männer als kleine Lichter eingestuft und deshalb in Frieden gelassen. So genau lässt sich das nicht mehr rekonstruieren.

Auf jeden Fall gab es keinen Hinweis an Pfeufer. Das war kein Einzelfall. Auch Zeugen aus der DDR zur Aussage in die BRD reisen zu lassen, tat sich das MfS schwer. Die Betreffenden wurden zuvor überprüft, ob sie politisch zuverlässig sind und nicht etwa die Gelegenheit zur Republikflucht benutzen. Das hat die Ermittlungen im Westen zweifelsohne etwas behindert. Es lässt sich aber nicht belegen, dass auch nur eine theoretisch mögliche Verurteilung eines Täters praktisch daran gescheitert wäre. Zum Teil sind ja immerhin Vernehmungsprotokolle an die westdeutsche Justiz übermittelt worden. Die Ermittlungen gegen Helmut Bärwald, die nach der Wende aufgenommen wurden, sind dann ja auch tatsächlich 1996 ergebnislos eingestellt worden.

Abenteuerlich war die gängige Praxis der westdeutschen Justiz, SS-Verbrecher als Opfer der Zeitumstände hinzustellen, die ja nur auf Befehl gehandelt hätten, während Blockälteste aus den Reihen der Häftlinge, die Kameraden geprügelt hatten, die Angst um das eigene Leben nicht zugebilligt wurde.

Stephanie Bohra: »Tatort Sachsenhausen«, Metropol, 661 Seiten, 29,90 Euro