nd-aktuell.de / 24.04.2019 / Kultur / Seite 8

»Auch ein Nichts kann etwas werden«

Die Galerie ART CRU stellt den Schweizer Außenseiter-Künstler Hans Krüsi aus

Klaus Hammer

Was bedeutet denn Kunst der Außenseiter? Ist das primitive Kunst, unangepasste Kunst, Kunst von Autodidakten, von behinderten Menschen, von Sonntagsmalern, von Naiven? Die Außenseiter bemühen sich, ihre Erfahrungen so direkt wie möglich zu schildern, »unzensierte« Bilder zu schaffen. Solche Bilder entstehen ohne Anweisung.

Für sie ist es wichtig, dass ihre wunderbaren Fantasie-Schauspiele wie erlebt und nicht wie erfunden aussehen. Die Klarheit ihrer Visionen erhöht noch die zwingende traumartige Eigenschaft ihrer Bilder. Diese stehen plötzlich vor uns, unvermittelt und ohne Zweideutigkeiten, ganz so, als wären sie nach dem Leben gemalt. Und es waren gerade »professionelle« Künstlerkollegen, die als erste auf das Werk dieser Außenseiterkünstler aufmerksam wurden und sie auch als Inspirationsquelle benutzten.

Seit etwa elf Jahren gibt es die Galerie ART CRU, die einzige Galerie für Außenseiterkunst in Berlin. Sie stellt Künstler mit Psychiatrie-Erfahrungen oder geistigen Behinderungen aus, präsentiert sie auch auf Kunstmessen und in Wettbewerben. Träger der Galerie ist der Verein PS-Art e.V. Berlin, ein Netzwerk aus verschiedenen psychosozialen Institutionen. »Und die Netzwerkbildung von Künstlern, Werkstätten, Vereinen und Unternehmen auf lokaler und internationaler Ebene steht für uns im Vordergrund«, sagt die verdienstvolle Galerieleiterin Alexandra von Gersdorff-Bultmann.

Die Galerie verhilft solchen Außenseiter-Künstlern aber nicht nur zur psychosozialen Anerkennung ihres Werkes, sondern auch zur künstlerischen Gleichstellung mit »akademischen« Künstlern. Dabei kommt es zu mitunter aufsehenerregenden Entdeckungen, so bei dem Appenzeller Maler und Objektkünstler Hans Krüsi, der, im Alter von 75 Jahren 1995 verstorben, eine harte Lebensschule als Waisenkind, Stallknecht, Gärtnergehilfe und Blumenverkäufer hinter sich hatte. Er wurde Anfang der 1980er Jahre von der Kunstwelt entdeckt. Wenigstens in der Ostschweiz ist er inzwischen weithin bekannt geworden, aber nun kann er auch in Berlin wahrgenommen werden.

Hans Krüsi hatte zweifellos eine große zeichnerische und malerische Begabung - diese freie, lyrische Mischung aus Volksmärchen, naiver Umsetzung, sarkastischem Humor, Blabla und grotesker Absurdität. Ein Erwachsener, der seine kindliche Freiheit wiederentdeckt hatte. Nur war seine Kunst nicht ganz so naiv, wie man annehmen könnte. Zürich, wo er auf der Bahnhofstraße selbstgebundene Blumensträuße verkaufte, war ein Schnittpunkt der europäischen Moderne. Krüsis Menschen, Tiere, Pflanzen und Landschaften, reale wie erfundene, auf Postkarten, Papierservietten, Karton, Packpapier oder Abfallholz, sind entweder Detailvisionen oder lassen sich aus imaginären Farbflecken erschließen.

Krüsi fängt wieder mit dem Urkörper an; einem dicken Farbenklecks, eigentlich eine Methode der abstrakten Malerei, ein breiiges Gekleckse, das als Tachismus bekannt wurde. Die ganze Bildfläche ist gleichwertig gesehen. Und doch kann sich hier alles im Augenblick verwandeln. Es war diese Mutationsfähigkeit des Lebens, die ihn den Surrealisten nahebrachte - alles kann unter dem Druck einer drängenden, animalischen Vitalität eine andere Form annehmen. Hat seine Außenseiterexistenz seine Fantasie freigesetzt und eine Wirkung wie Meskalin auf ihn ausgeübt?

Seine Figuren kommen aus einem sehr spezifischen, dichten und spielerischen Naturverständnis, wie es nur aus einer Herkunft auf dem Lande entstehen kann. Krüsis fast anstößiger Animismus beruht auf Details und genauer Beobachtung. Er beißt sich fest und lässt nicht wieder los. Exakt, aber frei, wild, aber scharf wie ein Messer - das macht seine metamorphen Fantasiegebilde und Urbildergärten zu den schönsten gemalten Märchen in der modernen Kunst, die er mehr als 20 Jahre lang immer weiter vervollkommnet hat.

Auf der einen Seite die unbezähmbare, laichartige Vermehrung des Lebens. Und auf der anderen der Bezug zum geschlossenen engen Raum, der seine eigene Festigkeit leugnet, das Eingeschlossensein, eine labyrinthische Welt, in die er Ordnungsmuster zu setzen suchte, kein Hintergrund, keine Horizonte, aber auch keine Angst einflößende Leere.

Krüsis Gefühl für Rhythmik, Prozesshaftigkeit, Wiederholung, Variation, Entfaltung, Wiederaufnahme und Weiterverarbeitung übertrug sich selbstverständlich auf seine Bilder. Er interessierte sich für das Rudimentäre, das noch nicht Erforschte. Und rudimentär hieß bei ihm, dass konventionelle Themen - wie ein Porträt oder eine Landschaft - auf ihre notwendigsten Teile reduziert wurden.

Die Züge eines Mannes wurden zu einem Gekritzel mit hervorquellenden Augen, aber sein Gesicht oder seine Figur arbeitete er höchst originell aus, sodass er ebenso kunstvoll wie trivial wirkte, während eine Landschaft zu einer dicken Kruste undifferenzierter schmutziger Farbe gerann, die die ganze Fläche ertränkte.

Krüsi hat außerdem Fotos geschossen, über- und unterbelichtet, verwackelt, verzogen und angeschnitten und sie übermalt, collagiert, in sie eingeritzt oder sie ausgeschnitten. Er hat Wortspiele und Wortschöpfungen erfunden und sprachliche Elemente auch für sein bildnerisches Schaffen verwendet. Auf einen Einkaufsziehwagen hat er einen Felltornister verschnürt, den er mit Papierservietten, Pack- und Reklamepapier beklebt und darauf mit Filzstift und Gouache gezeichnet und gemalt hat.

Das Eingepackte hat eigentlich keine unmittelbare Anschaulichkeit, es wird zu einem Ding im Innern. So hat er auch »Kuhmaschinen«, Häuser und Kirchen aus Holzleisten und anderen Materialien gebastelt. »Ich sammle überall Dinge auf, die dann auf meinen Bildern enden - oder meine Bilder in ihnen«, so Krüsi.

Mit dem Satz »Auch ein Nichts kann etwas werden«, auf einen A4-Karton geschrieben, bestätigt Krüsi, dass ihm die Befreiung der Kreativität in der Kunst gelungen sei. Kunst und Leben bildeten für ihn eine Einheit. Dieser geniale Sonderling und selbstvergessene Bildermacher (als er starb, soll er eine halbe Million Schweizer Franken hinterlassen haben) ist in der Tat ein Phänomen.

»Hans Krüsi - Vom Waisenkind zum Genie«, bis 11. Mai., Galerie ART CRU Berlin, im Kunsthof Oranienburger Straße 27, Berlin