nd-aktuell.de / 07.05.2019 / Kultur / Seite 14

Die Wunde, die bleibt

Zum 80. Geburtstag des Dichters Volker Braun

Hans-Dieter Schütt

Schönes Leben: dies Ausreizen von Situationen bis zur nächsten Verwirrung; das Eigene am lautesten sagen in den Momenten der Verzweiflung; die Halbheiten, die noch möglich sind, ganz und gar genießen. Bei sich selber sein, aber - wie dieser Dichter es schreibt - nicht in der Einsamkeit des Rasierspiegels, sondern nah am Brennglas der sozialen Erfahrungen. Utopien? Sie sind für Volker Braun noch immer der weise Schnee von gestern, der die Schläfen kühlt. Für ein Denken, das Scheu erzeugt, nicht Sicherheit. Was ist für Braun utopisch? »Wahrzunehmen, was in der eigenen Haut los ist.« Du bist dir selber dein größter Feind - mit deinem gefährlichen, stets nachwachsenden Tastsinn für Bekömmlichkeiten.

Ich lese seine Lyrik, als hörte ich sie. Von Dichters eigenen Lippen. In diesem sanft gestelzten Sächsisch. Das Sächsische ist ja die schwingende, schaukelnde Breitseite unserer deutschen Sprache - mit der Volker Braun aber unbedingt auf den Punkt kommen will, auf den »Tiefpunkt meiner Erfahrung«. Es ist lustig, wenn er so spricht. Oder listig: ein Anarchist auf Samtpfoten. Sein Mut steht auf dem Papier, dessen Geduld sein Lebenselixier wurde.

»Training des aufrechten Ganges« heißt einer seiner Gedichtbände. »Langsamer knirschender Morgen« ein anderer. Da hört man den Sand im Getriebe, hört das Blut pochen der von Elan Getriebenen. Im undurchdringliches Gelände sagt diese Poesie: Bald sind wir am Ziel! Gehen, gehen!, aber noch immer nichts sehen vom Gipfel. Bis wir endlich merken, dass es in die Tiefe geht. Wo die Zuversicht liegt: am Boden, also ganz unten, wo sie hingehört. In den Gruben der Baustellen, wo die Gründe ausgehoben werden - für den nächsten fundamentalen Irrtum. Was wird der sein? Was alles kann noch an Furchtbarem geschehen, da wir »unrettbar im wohlstand schmachten«?

Ich denke an einen anderen Satz Brauns: »›Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns‹, sagt Kafka, nein, es gibt wenig Hoffnung, aber für uns.« Der Satz steht im überwältigenden Essay »Ein Ort für Peter Weiss« - soeben noch einmal veröffentlicht im Band »Verlagerung des geheimen Punkts«, Schriften und Reden Brauns. Aufsätze über Rimbaud und Büchner, Trotzki und Gorbatschow, Mickel und Candide; Denken und Gedenken: Christa Wolf, Jo Jastram, Joachim John, Jürgen Teller. In diesen Aufsätzen wird Kunst nicht als Verbandsplatz für die bürgerliche Seele beschworen, sondern als Emanzipationswerkstatt für einen Materialismus, der immer Material bleibt. Das Gegenteil von Beton. Braun sucht keine Wahrheit, er ist ihr ausgesetzt. »Das fein Geplante/ Ist doch zum Schrein./ Das Ungeahnte/ Tritt eisern ein.«

Ein weiteres Buch, das soeben erschien: »Handstreiche«: Notate, Denkwürdigkeiten, Kopfkiesel. Das Büchlein ist eine Verführung zum Zitieren: »Von einer Aufgabe träumen. Mitten im Unterricht.« Oder: »Er setzt auf die Gesellschaft. Das macht ihn zum Einzelgänger.« Oder: »Wie sie recht haben! Wie die Blöden.« Oder: »Man kann es sich nicht heraussuchen, aber man kann sich etwas herausnehmen.« Oder: »Es ist Zeit, die Gedanken zu sammeln, die du dir aus dem Kopf geschlagen hast.« Oder: »Im Alter die Schwäche, dass man nicht nur die Weisheit vertritt, sondern auch die Wahrheit.«

Auch das ist dieser Dichter: ein vielgerühmter kaum Gespielter. Er hat mit seinen Stücken (»Guevara«, »Lenins Tod«, »Simplex Deutsch«, »Dmitri«, »Der große Frieden«) die Bühnen in die Knie gezwungen, hat sie genötigt, vor ihm zu kapitulieren. Für so Hochfahrendes, das er schrieb, erwies sich das Theater zu heruntergekommen. Auf ihn genau trifft zu, was Botho Strauß, ein so ganz anders gearteter Dramatiker gegen die Mittellagengeister des »bloßen Zeitgetuschels« setzt: »Andere müssen in höherer Warte sich ausbilden, sie sind Wegscheiden des Sehens, Fühlens und Wissens.« Brauns Prosa wie seine Dramen wie seine Gedichte: Bild auf Bild, Wortspiel auf Wortspiel platzt herein, überwirft sich mit der Schlichtheit von Satzbildungen, will Spruch nicht ohne den Wider-Spruch, kennt nur die Steigerung, den Konzentrationstrieb. Wie geht's weiter?, fragt der Stoff, wie geht's noch dichter?, fragt die Sprache zurück.

»Man hat mein Leben vertauscht«, heißt es in »Die vier Werkzeugmacher«, einer Geschichte über die Zeit, da die einst Tätigen im Osten, aus ihrem volkseigenen Werk taumelnd, nun gegen die Wende knallten wie gegen Wände und wie betäubt ins Untätige kippten. Ala der Westen das abgewählte Land an die Treuhand nahm, um es an der Nase herumzuführen, erfand Braun den Romanhelden Flick: Ein Letztposten des alten Arbeitersinns. Die Arbeiter kaltgestellt vom Kapital? Flick macht das heiß. Der arbeitslose Mensch: ein unbenutztes Werk-Zeug, Zeugs ohne ein Werk, das ihn weitererzählen könnte. Flick rebelliert. Ein Schelmenroman, trauriger kaum denkbar. Aber niemand spricht kräftiger als jener, dem sich der Wert vom produktiven solidarischen Menschen jäh am Abgrund offenbart - im Vers schreibt Braun: »Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle./ Wann sag ich wieder MEIN und meine alle.«

Ein Arbeiter-Dichter war er immer. Einst, vorm Studium der Philosophie, ein freiwillig Suchender in Schlamm und Sand der Lausitzer Tagebaue. Ausdauernd neugierig, »wie es um diesen historischen Heilsbringer, Proletariat genannt, wirklich bestellt ist« (Friedrich Dieckmann). Als Braun den Büchner-Preis erhielt, führte er in seiner Rede zwei Menschenzüge zusammen: jenen schönen Zug, den die DDR plötzlich bekam, mit der Masse des 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, die keine Gewalt ausübte, und andererseits jenen traurigen Zug der neunzehn Bischofferöder, »ein Rinnsal des Aufbegehrens« vor den Toren der Treuhand, der keine Gewalt hatte, die Betriebstötung im Thüringischen zu verhindern. Den Dichter treibt Freude an Befreiungen wie der Zorn über die Armseligkeit einer Demokratie, die Arbeit nimmt, »das ist die Wunde, die bleibt«.

Er ist kein Tragiker, er ist ein Problematiker. Ihn bewegen die »probleme der gesellschaft mit den individuen, nicht nur der individuen mit der gesellschaft«. So notierte er es in »Werktage«, es sind dies zwei großartige Bände Reflexionen von 1977 bis ins 21. Jahrhundert. Selbstpeinigender Rückblick: Man nahm im Osten die Position des Widersprechenden ein, und wurde just damit als ein Fürsprechender vereinnahmt. Die Kassiber, die man in die frostblinden Fenster kritzelte, verkaufte das System als Eisblumengruß an sich selbst. Das ist Eingeschlossensein in einem System, wo jeder »seine politisch-moralische feile im schädel« hat. Folge: Einsamkeit. Notiz 1977, im Schriftstellerverband: »so viele köpfe, die mir egal sind, finde ich in keinem reichsbahnwartesaal.« Und er geht sich selbst an den Kragen, um den er sich nicht schrieb - er kritisiert seinen legendären Aufschwungton im Gedichtband »Provokation für mich« (1965), spricht vom »illusionistischen pathos. erschreckend, daß das damals solche wirkung tat«.

Volker Braun. 1939 geboren an einem Sonntag, in Dresden. Der Krieg. Die Elbhänge. Oben blühende Felder, unten die glühenden Trümmer. »Noch die Ruinen hatten Würde, das Grauen und die Schönheit gleichzeitig, das war meine ästhetische Erziehung.« Der Vater, der im Krieg blieb: ein Revisor mit unzähligen Büchern zu Haus: »Eine eintönige Existenz, aber wie viele Träume, so ganz anders zu leben« - das ewige, millionenfache Menschenproblem. Die Mutter und ihre fünf kleinen Söhne und das gesellschaftliche Umfeld - »für mich ist das ein Ursprungssatz: Ich wuchs unter Brüdern auf.«

Die Geschichte? Stets muss der Mensch erst ins »blendlicht« treten, um den »eignen schatten wahrzunehmen«. Heute sind wir erfasst von Einbrüchen des Weltwirbels in unsere Schonung. Braun bleibt dem Schmerz der Globalprozesse auf der Spur. Das Wirkliche und das Gewollte im Aufeinanderprall, als schlügen Metallschilder gegeneinander. Die Verhältnisse sprengen! Man muss an die Wurzel? Das wäre womöglich: den Menschen im Menschen ausreißen. Bis er der nächste neue Mensch ist, die nächste Totgeburt? Aber auf der Tagesordnung bleibt trotzdem, peinigend, die wahre folgenreiche Wiedervereinigung: nicht der Brüder und Schwestern, sondern der Satten mit denen, die es satt haben. Wann endlich haben wir uns selber satt und hungern der neuen Machtregel entgegen: Beherrsche dich und teile? Unsere Scham davor ist unsere Schande, auch das sprach Braun vor Jahren schon aus: Wir, »die wir die Welt dieser ausgrenzenden Grausamkeit wählten, stehen in der Schuld aller Orte, die verloren sind«.

Heute wird der große deutsche Dichter Volker Braun 80 Jahre alt.

Volker Braun: Verlagerung des geheimen Punkts. Schriften und Reden. Suhrkamp. 320 S., geb., 28 €.

Handstreiche. Suhrkamp. 94 S., geb., 18 €.