nd-aktuell.de / 18.05.2019 / Kommentare / Seite 8

Revolution in den Parlamenten

Carina Kühne hält es für notwendig, dass Menschen mit Behinderungen wählen können

Carina Kühne

Mehr als 80 000 Menschen wurden bislang vom Wahlrecht ausgeschlossen. Doch damit ist jetzt Schluss: Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich entschieden, dass dieser Ausschluss verfassungswidrig ist. Die bisher gültigen Wahlrechtsausschlüsse wurden am Freitag vom Bundestag aufgehoben. Behinderte Menschen sollen sowohl wählen als auch für eine Wahl kandidieren dürfen. Der erste Termin steht kurz bevor: Am 26. Mai findet die Abstimmung zum Europaparlament statt.

Das kann jedoch nur ein Anfang sein. Zur Einführung des inklusiven Wahlrechts gehört ebenfalls, dass Barrieren vor den Wahllokalen abgebaut werden und Menschen mit Behinderung die notwendige Unterstützung bekommen, ihre Stimme abgeben zu können - wenn nötig sogar eine Assistenz. Behinderte Wähler müssen außerdem die Möglichkeit haben, sich gut über die Kandidaten und ihre Parteien zu informieren. Dazu gehören Wahlprogramme der verschiedenen Parteien in leichter Sprache sowie Informationsveranstaltungen, in denen behinderten Menschen erklärt wird, worum es bei Wahlen eigentlich geht. Auch Nachrichten sollte es in leichter Sprache, möglichst mit Untertiteln und in Gebärdensprache, geben.

Im März 2009 hat die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Damit bekennt sich Deutschland zur umfassenden Inklusion von Menschen mit Behinderung und sichert vertraglich zu, sie gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Zu dieser Teilhabe gehört das Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen. Politik geht nämlich alle an - und sie betrifft auch alle.

Bestes Beispiel, warum wir Behinderte uns nicht nur umfassend über Politik informieren, sondern aktiv daran teilnehmen wollen, ist die Debatte über den sogenannten PraenaTest. Mit diesem Test kann durch eine Blutprobe festgestellt werden, ob ein Kind im Mutterleib Trisomie 21 (Down-Syndrom) hat.

Am 11. April saß ich mit mehreren Familien und ihren Kindern mit Trisomie 21 auf der Zuschauertribüne des Bundestages, als die Abgeordneten über den Bluttest als Kassenleistung debattierten. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass wir als zukünftige Wähler wahrgenommen wurden. Es machte mich betroffen, wie selbstverständlich sich die meisten Politiker für den Test aussprachen. Die Meinung, dass es ungerecht sei, wenn nur die werdenden Mütter den Test machen, die es sich leisten können, und dass der Test deshalb Kassenleistung werden muss, wurde von vielen Abgeordneten vertreten. Das ist bedauerlich. Denn der PraenaTest hat keinen therapeutischen Nutzen. Er dient ausschließlich dazu, Menschen zu selektieren.

Vielen Abgeordneten scheint nicht klar zu sein, dass es nicht um die Finanzen der Krankenkasse in der Debatte geht, auch nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern einzig und allein um Menschenleben. Schon heute werden neun von zehn Föten abgetrieben, wenn während der Schwangerschaft eine Trisomie festgestellt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die Geburtenrate von Menschen mit dieser Besonderheit noch weiter zurückgeht, wenn die Krankenkassen den PraenaTest bezahlen. Das gilt es zu verhindern.

Für mich reicht es deshalb nicht, wenn bei Wahlen auch Menschen mit Behinderungen ihre Stimme abgeben dürfen. Gut wäre außerdem, wenn mehr Behinderte für die Parlamente kandidierten und gewählt würden. Sie wissen, dass Inklusion noch immer in den Kinderschuhen steckt, dass politische Teilhabe für viele Behinderte ein Fremdwort ist und Barrierefreiheit nicht überall ernst genommen wird. Mehr behinderte Politiker im Bundestag - das wäre eine Revolution des Parlamentsbetriebes.