nd-aktuell.de / 01.06.2019 / Politik / Seite 32

»Uns drohen 20 Jahre Knast«

nd-Interview: Wer in Italien »Beihilfe zur illegalen Einwanderung« leistet, wird hart bestraft. Auch Seenotretter sollen kriminalisiert werden. Hendrik Simon ist einer davon.

Johanna Treblin

Weil Sie Menschen aus Seenot gerettet haben, drohen Ihnen 20 Jahre Haft. Macht Ihnen das Angst?

Es ist natürlich ein mulmiges Gefühl zu wissen, dass im schlimmsten Fall 20 Jahre Knast drohen - für etwas, das eigentlich nicht bestraft werden sollte, etwas, das selbstverständlich sein sollte, nämlich Menschen aus Lebensgefahr zu retten. Deshalb macht es mich eher wütend, weil Schiffe nicht mehr rausfahren können und wir daran gehindert werden, Menschen zu retten.

Die Perspektive, vielleicht tatsächlich 20 Jahre in einem italienischen Gefängnis zu sitzen, bereitet Ihnen keine Sorgen?

Das ist so abstrakt und auch noch so lange hin. Es fällt mir schwer, mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen. Aber natürlich. 20 Jahre Knast will niemand.

Bis jetzt wird lediglich ermittelt, Anklage wurde noch nicht erhoben, richtig?

Genau, aktuell laufen Ermittlungen. Unsere beiden italienischen Anwälte rechnen damit, dass Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres Anklage erhoben wird. Wenn es dann zum Prozess kommt, dauert es im besten Falle zwei bis drei Jahre bis zum Urteil. Und dann kämen wahrscheinlich noch weitere Instanzen hinzu.

Ihnen wird vorgeworfen, mit Schleusern zusammengearbeitet zu haben?

Jein. Es waren ursprünglich drei Vorwürfe: Beihilfe zur illegalen Einwanderung, Zusammenarbeit mit Mafiastrukturen, also kriminellen Banden, und Waffenbesitz.

Waffenbesitz?

Genau. Das hat uns auch gewundert. Der Vorwurf wurde nach der Durchsuchung des Schiffes aber fallengelassen. Wahrscheinlich war er nur ein Vorwand, um einfacher die Berechtigung zu bekommen, eine Wanze auf der Brücke zu platzieren und verdeckte Ermittler einzusetzen.

Verdeckte Ermittler und Abhörmaßnahmen - wie bitte? Erzählen Sie am besten mal, wie das alles losging.

Das war noch am Anfang der Einsatzzeit der »Iuventa«, im September 2016, da war ich selbst noch gar nicht an Bord. Drei Sicherheitsmitarbeiter auf einem anderen Schiff, der »VOS Hestia« von Save the Children, haben nach ihrem Einsatz eine E-Mail an den italienischen Geheimdienst geschickt, dass sie beobachtet hätten, die »Iuventa« arbeite mit Schleusern zusammen. Einen Tag später haben sie sich auch an den damaligen Abgeordneten der Lega, Matteo Salvini, gewandt, der jetzt Innenminister ist.

Was wollen die drei beobachtet haben?

Dass ein Schlauchboot von der »Iuventa« ablegte und von zwei Menschen zur libyschen Küste gebracht wurde. Heute sagt der Hauptbelastungszeuge allerdings, das seien nur Vermutungen gewesen. Tatsächlich wurde das Boot von Crewmitgliedern weggebracht, um es wie üblich zu zerstören.

Damals wurden aber aufgrund der Aussagen der Sicherheitsleute Ermittlungen aufgenommen?

Zunächst hat sich Salvini bei ihnen gemeldet und sie gebeten, ihm über die nächsten Monate Informationen über Beobachtungen an Bord der »VOS Hestia« zukommen zu lassen. Das haben sie offensichtlich getan. Weil die Sicherheitsmitarbeiter sich dann auch an die Behörden wandten, setzten die schließlich einen verdeckten Ermittler ein.

Wenn Sie gar nicht dabei waren, wieso wird dann auch gegen Sie ermittelt?

Zwei der drei Vorwürfe stammen aus meinem ersten Einsatz auf der »Iuventa« im Juni 2017. Da war ich RIB-Fahrer, bin also eines der beiden schnellen Rettungsboote gefahren. Der verdeckte Ermittler will gesehen und dokumentiert haben, wie wir Holzboote Richtung libysche Küste bringen und diese Schleppern übergeben. Eine englische Forschergruppe aber, Forensic Architecture, hat aus ganz vielen unterschiedlichen Quellen - Wetterdaten, Wellendaten, Winddaten, Aufnahmen von Journalisten - alles rekonstruiert und die Behauptungen komplett widerlegt.

Ermittlungen laufen gegen zehn Personen, die »Iuventa10«. Wieso gerade Sie?

Das haben wir uns auch immer wieder gefragt. Wir wissen nicht, was gerade wir gemacht haben sollen. Es scheint ein bisschen willkürlich, aber nicht komplett: Der Kapitän und der Einsatzleiter von der Mission im September 2016 sind betroffen. Von der Mission im Juni 2017, bei der ich dabei war, sind der Kapitän und die beiden RIB-Crews betroffen. Außerdem die Kapitänin und die Einsatzleiterin der Mission, bei der das Schiff beschlagnahmt wurde. Das sind die zehn.

Sie waren trotz dieser Vorwürfe auf zwei weiteren Missionen?

Da waren die Vorwürfe noch nicht bekannt. Die »Sea-Watch III«-Einsätze, bei denen ich dabei war, waren im April und Mai 2018. Im Juni - nach der Beschlagnahmung der »Iuventa« - habe ich erst von den Ermittlungen erfahren. Unsere Anwälte haben uns dann geraten, nicht mehr rauszufahren, weil wir als Wiederholungstäter eine Untersuchungshaft riskieren würden.

Und daran halten Sie sich? Sie fahren keine Mission, solange noch ermittelt wird?

Solange es nicht absolut notwendig ist.

Was heißt »absolut notwendig«?

Ich glaube, wir würden alle mitfahren, wenn andernfalls ein Einsatz scheitern würde.

Und was macht das mit Ihnen, dass Sie nicht mehr rausfahren können?

Im ersten Moment macht es mich unglaublich wütend, dass der Friedensnobelpreisträger Europäische Union aktiv verhindert, dass Menschen anderen Menschen das Leben retten. Gleichzeitig macht es mich wahnsinnig traurig, dass Menschen ertrinken und niemand da ist, um sie zu retten. Und diejenigen, die doch gerettet werden, werden von der sogenannten libyschen Küstenwache nach Libyen in die Lager zurückgeschleppt, wo ihnen Folter, Versklavung und andere Grausamkeiten drohen.

Würden Sie derzeit in Italien Urlaub machen?

Ich war sogar gerade da (lacht). Das ist kein Problem.

Wie wurden Sie eigentlich Seenotretter? Sie sind ja eigentlich Informatiker.

Genau. Ich wurde Anfang 2016 von Freunden gefragt, die eine NGO in Berlin gegründet hatten, ob ich mit nach Lesbos kommen könnte - weil sie wussten, dass ich gut Boot fahren kann. Ich hatte keine Zeit, aber im Sommer suchten sie wieder jemanden. Da konnte ich. Das war mein erster Einsatz.

Aber das haben Sie vermutlich nicht nur für Ihre Freunde gemacht?

Nee, natürlich nicht. Das war der Anlass. Darüber nachgedacht hatte ich schon lange. Im Fernsehen immer wieder die Boote und die ertrunkenen Menschen zu sehen, die am Strand angespült wurden, hat mich total mitgenommen. Da muss man doch mal was machen, dachte ich. Als ich das erste Mal von der Organisation Sea Watch gehört habe, dachte ich, das ist genau das, was ich machen will und auch müsste.

Es ist sicherlich eine starke Belastung, Ertrinkende aus dem Wasser zu ziehen?

In dem Moment selbst ist man einfach drin und funktioniert. Das Problem entsteht hinterher, wenn man wieder an Land ist und die Bilder verarbeiten muss, die man gesehen hat. Es hilft auf jeden Fall, darüber zu reden. Deswegen halte ich auch gerne und oft Vorträge, weil es für mich eine Verarbeitung dessen ist, was ich gesehen habe. Gleichzeitig finde ich, dass Menschen darüber informiert werden müssen, was auf dem Meer passiert. Und natürlich mache ich es auch, weil wir Geld für unsere Verteidigung brauchen. Wir haben Anwälte, die schon jetzt ständig zu Hearings fahren müssen. Wenn es dann zum Prozess kommt, fallen weitere Kosten an. Nach einer ersten Kalkulation kommen wir auf knapp 600 000 Euro, die wir brauchen. Dafür könnte die »Iuventa« ein ganzes Jahr auf See sein!

Stimmt es, dass Sie Geld zahlen müssten pro Mensch, den Sie gerettet haben?

Genau. Das ist noch so eine abstrakte Sache. Uns droht eine Strafe von 15 000 Euro pro angeblich eingeschmuggelter Person. Die »Iuventa« hat über 14 000 Menschen gerettet. Das wäre ein Betrag, den kann man sich gar nicht vorstellen.

Aber Sie Zehn sind ja nicht für alle diese Personen verantwortlich, oder?

Das ist richtig, aber für mehrere Tausend sicher. Und auch das ist ziemlich viel.

Was ja eigentlich schön ist.

Ja.

Lesen sie auch die Textsammlung: Seenotretter unter Druck[1]

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/dossiers/430.html