Fünf Blickwinkel zum NSU-Skandal

Der Untersuchungsausschuss des Landtags legt seinen Abschlussbericht vor. Jede Partei vertritt ihre Meinung

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.

Könnten der Blumenhändler Enver Şimşek, der Schlüsseldienstmann Theodoros Boulgarides, die Polizistin Michèle Kiesewetter und die anderen sieben Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) noch leben? Hat der brandenburgische Verfassungsschutz sie mit auf dem Gewissen, weil er Hinweise seines Spitzels »Piatto« auf das untergetauchte NSU-Trio nicht rechtzeitig an die richtigen Stellen weitergegeben hat?

Die Landtagsabgeordneten Björn Lakenmacher (CDU) und Franz Wiese (AfD) wollen nicht spekulieren. Sie wissen es nicht, sagen sie. Nach Ansicht von Björn Lüttmann (SPD) sind die Informationen »im Rahmen geltenden Rechts« geflossen. »Die Thüringer Polizei hätte zugreifen können«, glaubt Lüttmann.

Fakten
  • Der Landtag hatte am 29. April 2016 beschlossen, einen NSU-Ausschuss einzusetzen. Am 12. Juli 2016 trat der Untersuchungsausschuss zum ersten Mal zusammen.
  • Bis zum 23. Mai 2019 hat es 45 Ausschusssitzungen gegeben.
  • Bei sechs Sitzungen wurden Sachverständige angehört.
  • In 37 Sitzungen wurden mehr als 100 Zeugen befragt, davon einige mehrfach. Gedauert hat das zusammen 291 Stunden. Es gab maskierte Zeugen und solche, die in typischer Kleidung der rechten Szene erschienen.
  • Die Abgeordneten nahmen Einsicht in rund 12 300 Dokumente mit insgesamt 1,05 Millionen Seiten.
  • Die Fraktionen stellten 210 Beweisanträge. Von den 40 Beweisanträgen der AfD ist nach deren Auskunft kein einziger angenommen worden. Die AfD hätte gern den Neonazi Maik Eminger vernommen, den Bruder des im Münchner NSU-Prozess verurteilten André Eminger. Dazu kam es nicht. af

Dem widerspricht Volkmar Schöneburg (LINKE) ganz entschieden. Dass die Staatsanwaltschaften fünf Deckblattmeldungen mit den erheblichen Auskünften von »Piatto« im Jahr 1998 damals nicht erhalten haben, sei »ein klarer Rechtsbruch« gewesen. Schöneburg, von Beruf Rechtsanwalt, nennt die Paragrafen im Verfassungsschutzgesetz und im Strafgesetzbuch, gegen die die Beamten verstoßen haben. »Eine Ergreifung des NSU-Trios und seines Unterstützungsnetzwerks ist dadurch zumindest erschwert worden«, sagt der Abgeordnete.

Der Abschlussbericht beantwortet nicht alle Fragen

Es gibt also keine einhellige Antwort auf die Frage: Was wäre gewesen, wenn? Dabei war es die zentrale Frage, die ein Untersuchungsausschuss des Landtags beantworten sollte. Am Montag wurde der Abschlussbericht vorgelegt. Er füllt acht dicke Aktenordner mit insgesamt 3282 Seiten. Allein 531 Seiten entfallen auf die unterschiedlichen Einschätzungen der Parteien. Alle fünf Fraktionen haben sich einzeln geäußert, und dann gibt es zusätzlich noch zwei gemeinsame Stellungnahmen einerseits der Koalitionsfraktionen SPD und LINKE und andererseits der Oppositionsfraktionen CDU und Grüne.

Man könne Aussagen von Zeugen »so oder so« bewerten, sagt SPD-Politiker Lüttmann, um die unterschiedlichen Stellungnahmen zu erklären. Es gebe aber auch politische Differenzen. Entweder man misstraue dem Innenministerium, wenn es Stellen in Akten schwärzt, oder man vertraue ihm, dass es nichts verheimlichen wolle, so Lüttmann.

Innenministerium soll Aufklärungsarbeit behindert haben

Die Abgeordnete Ursula Nonnemacher (Grüne) findet, dass das Innenministerium die Aufklärungsarbeit behindert hat, indem es Zeugen keine volle Aussageerlaubnis erteilte und Akten zu spät herausgab oder lange Absätze darin unlesbar machte. »Fakt ist, dass Staatsanwaltschaft und Polizei mit den Informationen aus Brandenburg eine zusätzliche Chance gehabt hätten, die Thüringer Neonazis vor dem ersten NSU-Mord dingfest zu machen«, urteilt Nonnemacher. Deswegen sieht sie auch eine gewisse Mitverantwortung Brandenburgs dafür, dass der NSU nicht vor seiner Mordserie gestoppt werden konnte. Das Land Thüringen habe einen Fonds von 1,5 Millionen Euro für die Hinterbliebenen der Opfer aufgelegt. Auch Brandenburg sollte etwas zahlen, meint Nonnemacher.

Im Untersuchungsausschuss sind Dinge zutage getreten, die unglaublich sind, aber wahr. Bestätigt hat sich nach Auskunft der CDU, dass der Verfassungsschutz Einfluss nahm auf die vorzeitige Haftentlassung von Carsten Szczepanski alias »Piatto«. Der saß im Gefängnis, weil er im Mai 1992 zu der Meute Neonazis gehörte, die den Nigerianer Steve Erenhi in Wendisch-Rietz brutal verprügelten und in den Scharmützelsee warfen, wo der schwer Verletzte beinahe ertrunken wäre. Als Szczepanski noch in der Justizvollzugsanstalt saß, trug ihm der Geheimdienst Material rein und raus. So konnte der Neonazis hinter Gittern ein Skinhead-Magazin herausgeben und die gewalttätige Stimmung in der Szene weiter anheizen.

Von »ständigen Rechtsbrüchen« der Verfassungsschutzbeamten und ihrer V-Leute spricht wegen solcher Vorfälle Rechtsanwalt Schöneburg. Er zählt dazu auch die an Nötigung grenzende Anwerbung von Spitzeln, wenn beispielsweise ein alkoholisierter Neonazi am Steuer seines Autos abgepasst und vor die Alternative Anzeige oder Schnüffeln gestellt wurde. Weiterhin nennt Schöneburg die Produktion der Rechtsrock-CD »Noten des Hasses« durch den V-Mann Toni Stadler. In den Songs wurde zum Mord an der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) und an dem Fernsehmoderator Alfred Biolek aufgerufen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Welche Schlussfolgerungen müssen aus dem Versagen des Geheimdienstes gezogen werden? Auch da sind sich die Parteien nicht einig.

Die AfD wünscht sich einen Verfassungsschutz, der das Gewicht auf Linksradikalismus und Islamismus legt. Die SPD sieht die Sicherheitsarchitektur »nicht grundlegend infrage gestellt«. Auch die CDU hält am Verfassungsschutz fest, allerdings mit der Einschränkung: »Wenn er seinen Auftrag erfüllt« und seine Kompetenzen nicht überschreitet. Dagegen hat sich für die LINKE »der Wert des Verfassungsschutzes im Kampf gegen rechts nicht gezeigt«. Eigentlich könnte er abgeschafft werden. Wenn der Geheimdienst aber unbedingt beibehalten werden soll, so müsste das V-Mann-Unwesen beendet werden – entweder durch den Verzicht auf Spitzel oder durch eine starke Reglementierung ihres Einsatzes.

Der Entwurf der rot-roten Koalition für ein neues Verfassungsschutzgesetz erfüllt für Schöneburg diese Bedingung nicht. Darum will er diesem Gesetz nicht zustimmen, das nächste Woche verabschiedet werden soll. Weil auch andere Linke nicht mitmachen wollen, gibt es Zweifel, ob der Gesetzentwurf durchkommt. Zunächst können die Parteien am Donnerstag im Innenausschuss weiter darüber streiten.

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