nd-aktuell.de / 13.06.2019 / Politik / Seite 15

Eine reale Utopie

Das Ziel gesellschaftlicher Transformation muss ein demokratischer grüner Sozialismus sein

Michael Brie und Dieter Klein

Die Aufregung um ein Interview Kevin Kühnerts in der »Zeit« scheint ad acta gelegt angesichts der viel größeren Aufregung über Andrea Nahles’ Rückzug von der Spitze der SPD nach deren Absturz bei den EU-Wahlen. Eher an der Großen Koalition festzuhalten oder doch auszusteigen und so oder so die Partei ein wenig zu erneuern - das scheint die SPD-Führung nun umzutreiben. Aber von alternativen Gesellschaftsvisionen ist sie Welten entfernt. Ohne sie wird die Sozialdemokratie jedoch nicht wieder auferstehen. Ohne eine sozial, ökologisch, demokratisch und friedenspolitisch erneuerte die SPD, werden aber auch die LINKE und die Grünen keine machtpolitische Perspektive für ihre Ziele haben.

Über Kühnerts Interview hatten Jarek Casper Iser und Marcus Gatzke bei »Zeit Online« geschrieben: »Er hat das S-Wort gesagt!« Er hatte von demokratischem Sozialismus als Perspektive gesprochen. Jahrzehnte hindurch galt sozialistisches Denken als ewig gestrig oder hoffnungslos illusionistisch und war aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt worden. Nun aber, spätestens seit der Mehrfachkrise 2008, sind die Grenzen des Kapitalismus derartig destabilisierend zu Tage getreten, dass Zukunft oder Ende des Kapitalismus wieder umstritten werden.

Demokratischer grüner Sozialismus gerät als reale Utopie wieder auf die politische Tagesordnung und könnte handlungsorientierend für alternative Akteure werden. Vom Standpunkt der Machteliten jedoch darf der Gedanke eines demokratischen Sozialismus um keinen Preis Raum gewinnen. »Denn der Diskurs ... ist dasjenige, worum und womit man kämpft, er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen versucht.« Er besitzt eine »schwere und bedrohliche Materialität«. (Michel Foucault)

Die SPD aber ist zur Zeit unfähig, diesem Diskurs zukunftsfähige Inhalte zu geben. Die Grünen werden in möglichen Koalitionen mit der CDU ihr ökologisches Profil nicht ausreichend politikwirksam machen und schon gar nicht sozial einbetten können.

Die LINKE könnte zum verlässlichen, verbindenden Partner und handlungsfähigen Akteur im Netzwerk sozialer Bewegungen und Organisationen werden,

  • wenn sie denn ihre ökologische Halbherzigkeit überwinden würde;
  • wenn ihre Politik der Zentralität von Klimafragen und digitaler Revolution entspräche;
  • wenn sie weitherzigste Solidarität mit Migrant*innen und konsequente Bewahrung des Sozialstaats gleichermaßen für Bürgerinnen und Bürger und Zuwandernde zusammenführte;
  • wenn sie sich ebenso den sozialen Interessen derer im Unten der Gesellschaft wie den oft postmateriellen Interessen gebildeter urbaner Milieus verpflichtet sähe;
  • wenn sie die nationale Ebene emanzipatorischer Kämpfe mit der europäischen und internationalen Ebene verknüpfte.

Anders als die SPD besitzt die LINKE wichtige programmatische Voraussetzungen dafür. Aber sie muss sie für eine entschieden radikalere Realpolitik als bisher nutzen; gerichtet auf ein breites Unten-Mitte-Bündnis für Gerechtigkeit und Solidarität, auf einen großen öffentlichen Diskurs der Suche nach einem in der Gesellschaft verankerten Programm für eine grün-rot-rote linke Regierung - so unrealistisch diese Vorstellung gegenwärtig auch scheinen mag. Aber in der Krise kann das Unmögliche möglich werden ­- auch der Einstieg in eine Transformation im Kapitalismus, die über ihn hinaus zu einem grünen demokratischen Sozialismus führt.

Eine der zentralen Fragen dabei ist, wie die Eigentumsordnung einer solidarischen Gesellschaft beschaffen sein sollte, welche Schritte zu ihr in nächster Zeit getan und für weitere systemüberwindende Schritte geöffnet werden könnten.

Erstens: Die elementaren Bedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung einer und eines jeden - gute Bildung und Kinderbetreuung, Gesundheitsleistungen auf hohem Niveau, Pflege, gesunde Umwelt, Sicherheit im Alter, menschenwürdiges Wohnen, Mobilität, Information und Kultur - müssen dem Maßstab des Profits entzogen werden. Diese Freiheitsgüter müssen ihrer inneren Natur gemäß als öffentliche Güter gestaltet werden, zugängig für alle. Am besten sind sie in öffentlicher Hand - ob gesamtstaatlich, landeseigen oder kommunal - aufgehoben, unter institutionell gesicherter öffentlicher Kontrolle. Dem privaten Gewinn unterworfen können diese Güter nicht zu Commons für alle werden, sondern geraten zu Vorzugsgütern für die Begüterten.

Dem Öffentlichen sollte in einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft ein weit größeres Gewicht als gegenwärtig zukommen. Ob ausgestaltet auf der Grundlage öffentlichen Eigentums, genossenschaftlich und kommunal, ob in Nutzergemeinschaften verwaltet, bei strengsten Auflagen in privater Regie oder in Mischformen - das wird herauszufinden sein. Auf jeden Fall muss der Zugriff internationaler Finanzfonds ausgeschlossen sein.

Zweitens: Das Korrelat zur radikalen Stärkung des Öffentlichen in einer progressiven Eigentumsordnung muss eine nicht weniger radikale Beschneidung der Supervermögen werden. Weltweit verfügen rund 23 000 Superreiche über Vermögen von 15 Billionen Dollar. Die reichsten zehn Prozent de Deutschen besitzen rund zwei Drittel des Gesamtvermögens. Etwa ein Fünftel der Erwachsenen in Deutschland hat nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ein Nettovermögen von Null, weitere sieben Prozent haben mehr Schulden als Vermögen. 21 Prozent aller Kinder in Deutschland leben dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutslage.

Die Folge der privaten Vermögenskonzentration ist, dass die Finanzoligarchie für ihren Reichtum, vor allem bedingt durch die begrenzte Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit, keine Anlagemöglichkeiten in produktiven Bereichen findet - gemessen an ihren hohen Renditeansprüchen. Große Teile ihres Vermögens wandern in Finanzgeschäfte und bleiben einem sozial-ökologischen Umbau entzogen. Die Dominanz der Finanzmärkte im neoliberalen Kapitalismus steht dem überlebensnotwendigen langfristigen ökologischen Strukturwandel entgegen und zerreißt die Gesellschaft in sozialen Fragen.

  • Dringlich werden die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer auf Privatvermögen über eine Million Euro (einer Millionärssteuer also);
  • eine gerechte Gestaltung der Einkommenssteuer durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei gleichzeitiger Anhebung des Grundfreibetrages;
  • die Einführung einer Finanztransaktionssteuer;
  • die Beschneidung von Steuervermeidung und Steuerflucht (also des Verlustes von jährlich etwa einer Billion Euro in der EU);
  • die Anhebung von Erbschaftssteuern auf große Erbschaften;
  • die Erhöhung des Anteils der Kommunen am Steueraufkommen im Interesse dezentraler Aufgaben des sozial-ökologischen Umbaus;
  • die Verlagerung zu Ökosteuern in der Struktur des Steueraufkommens.

Drittens werden der Übergang zu einer dominanten Stellung der Gemeingüter in einer solidarischen Gesellschaft und die Überwindung der oligarchischen Herrschaft nur im Rahmen der Demokratisierung aller Seiten der Gesellschaft einschließlich eines wirtschaftsdemokratischen Wandels in der Ökonomie erfolgen können.

Zivilgesellschaftliche Kräfte werden auf eine neue Souveränität der Parlamente gegenüber den internationalen ökonomischen Machteliten und ihren Lobbyorganisationen dringen und selbst wachsenden Einfluss wahrnehmen, vermutlich unter anderem durch Wirtschafts-, Sozial- und Ökoräte auf allen Ebenen der Gesellschaft, durch Volksbegehren und Volksentscheidungen, durch demokratisch institutionalisierte Mediation und Kompromissfindung im Umgang mit den unvermeidlich auftretenden Interessendifferenzen über das, was in Millionen Einzelfällen jeweils als Gemeinwohl gelten darf.

Dazu gehören zentrale Entscheidungen über den Weg zu einer in die Naturkreisläufe eingebetteten Ressourcen sparenden Kreislaufwirtschaft, über die Verwandlung der Finanzwirtschaft in eine Dienstleistungssphäre für den realwirtschaftlichen sozial-ökologischen Umbau, über die Einordnung von BMW & Co. in eine stark von öffentlichem Verkehr bestimmte Mobilitätsstruktur. Es wird um größtmöglichen Einfluss von Belegschaften, Kommunen, Verbrauchern und allen jenen gehen, die von den künftigen Umbrüchen in der Gesellschaft betroffen sein werden.

Der neoliberale umwelt- und gesellschaftszerstörende Kapitalismus hat abgewirtschaftet, aber er bestimmt die Verhältnisse noch. Er wird nicht in absehbarer Zeit und nicht unmittelbar vom Sozialismus abgelöst werden. Wohl aber gerät auf die politische Agenda die Transformation zu einer demokratischeren, sozialeren, stärker ökologisch orientierten progressiven Variante der Gesellschaft. Nach der Erfahrung des Rollback des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus seit den 1970er Jahren mit dem Übergang zum neoliberalen Kapitalismus werden bereits mitten in solcher innersystemischen Transformation Einstiegsprojekte in eine systemüberschreitende Große Transformation überall dort zu stärken sein, wo sie schon heute wirken. Die Realutopie heißt demokratischer grüner Sozialismus. Darum geht es im Kern.

Eine solche doppelte Transformation wird wohl aus einer Kombination entspringen. Zu dieser gehören erstens symbiotische Reformen, die durch Kompromisse zwischen Fortschritten für die Mehrheit und Interessen problembewusster Teile der Machteliten realisierbar werden. Doch die Herrschaft der neoliberalen Machteliten wird allein durch Reformen nicht zu erschüttern sein, solange sie im Rahmen der gegebenen Machtverhältnisse verbleiben.

Zweitens gehört dazu die Erkundung von solidarischen Arbeits- und Lebensformen in den Nischen und an den Rändern des Kapitalismus. Sie hat bereits eine Fülle nutzbarer Anregungen für eine künftige andere Gesellschaft hervorgebracht.

Aber auch die Summe progressiver Gegenexperimente wird den Kapitalismus nicht aus der Bahn werfen. Diese beiden Strategien werden erst im Gefolge einer dritten Strategie größerer Brüche systemsprengend zur Geltung kommen. Genau dies wird mit dem S-Wort aufgerufen: dass es um einschneidende Veränderungen in der Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung geht, deren Perspektive als sozialistisch bezeichnet werden kann. Und dies nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt!