nd-aktuell.de / 29.06.2019 / Politik / Seite 4

Weimarer Republik 4.0

Hoffentlich nicht zu spät: Der Mord an Walter Lübcke war ein Weckruf.

Jana Frielinghaus

Die Erschießung Walter Lübckes ist zu Recht mit den von rechten Paramilitärs verübten Fememorden in der Weimarer Republik verglichen worden. Allein in den ersten vier Jahren nach Entstehung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland in der Folge der Novemberrevolution 1918 fielen mindestens vier hochrangige Politiker solchen Attentaten zum Opfer. Der prominenteste war der Außenminister Walther Rathenau. Der Rechtsterror der 20er Jahre mündete 1933 in die Nazidiktatur. Auch damals waren wichtige Positionen in Polizei und Militär in der Hand extrem Rechter.

Dass es aktuelle Parallelen zu jener Zeit gibt, daran kann eigentlich schon seit der Selbstoffenbarung der Terrorgruppe NSU kein Zweifel mehr bestehen. Neonazis konnten in der Bundesrepublik bereits Jahrzehnten morden, weil staatliche Behörden wegschauten, ihr Treiben indirekt finanzierten und Ermittlungen der Polizei behinderten.

Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten hat nun anscheinend auch in der CDU viele wachgerüttelt. Mit bisher unerreichter Klarheit hat sich der Vorstand der Partei drei Wochen später von der AfD abgegrenzt, der er zugleich eine klare Mitverantwortung für das Verbrechen zuweist. Und der CDU-Innenexperte Armin Schuster mahnte am Donnerstag, angesichts der aufgeheizten Stimmung müssten nicht nur Politiker, sondern auch ehrenamtliche Flüchtlingshelfer und andere besser als bisher geschützt werden.

Zugleich folgt vieles, was seit der Ermordung des CDU-Politikers Lübcke aus seiner Partei an Forderungen laut geworden ist, einem alten Muster: Einschränkung von Grundrechten, wie von Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber vorgeschlagen, und noch größere Ausweitung der Befugnisse und Ressourcen des Inlandsgeheimdienstes. Die damit verfügbaren Instrumente wurden in der Vergangenheit statt gegen rechte Terrornetzwerke jedoch immer wieder vor allem gegen Linke eingesetzt.

Dabei wurden seit 1990 Recherchen von Journalisten und Opferberatungsstellen zufolge mindesten 170 Menschen von Rechten ermordet. Obwohl es im selben Zeitraum nur ein Tötungsdelikt gab, das als »links motiviert« klassifiziert wurde, ist auch der am Donnerstag präsentierte Verfassungsschutzbericht nach dem üblichen Muster verfasst: rechte, linke und islamistische »Extremisten« und »Gefährder«, von der Wichtung her immer noch alles nahezu gleich. Immerhin räumte der neue VS-Chef Thomas Haldenwang Versäumnisse bei der Bekämpfung rechter Netzwerke ein. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) versprach am Mittwochabend, alles »Menschenmögliche« zu tun, um weitere »Kapitalverbrechen« von Rechten zu verhindern.

Die Einschätzungen im VS-Bericht dagegen sind jedoch die üblichen: 24 000 »Rechtsextremisten«, davon 12 700 gewaltbereite hier, 32 000 »Linksextreme«, davon 9000 gewaltbereite, dort. Die Zahl der linken Verfassungsfeinde soll um 8,5 Prozent gestiegen sein. Dass es zu dem Mord an Walter Lübcke kommen konnte, entschuldigte Seehofer im ZDF zugleich damit, dass man angesichts der vielen gewaltbereiten Rechten »nicht jeden schiefen Weg erfassen« könne.

Verräterisch klang ein Nebensatz von Seehofer im Interview mit Marietta Slomka: »Auch die Einlassungen von Lübcke rechtfertigen nicht irgendeine Gewalttat.« Die Auffassung, zumindest so manche verbale Entgleisung wackerer Bürger gegenüber dem Regierungspräsidenten seien durchaus gerechtfertigt, schwang da deutlich mit. Lübcke hatte im Oktober 2015 gegenüber Einwohnern die Einrichtung einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete im hessischen Lohfelden unter Verweis auf christliche Werte entschieden verteidigt und war dafür schon damals angefeindet und bedroht worden.

Dass mindestens Seehofers CSU erheblichen Anteil am geistigen Zündeln hat, liegt indessen auf der Hand. Legendär ist Seehofers Aschermittwochrede 2011, in der er verkündete, seine Partei werde »bis zur letzten Patrone« gegen die »Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme« kämpfen.

Die Tatsache, dass der langjährige Neonazi Stephan E., der den Mord an Walter Lübcke inzwischen gestanden hat, seit 2009 nicht mehr auf dem »Radar« der Behörden war, erklärte CDU-Mann Armin Schuster damit, dass die Gesetze es nicht zuließen, jemanden, der seine Strafe verbüßt habe, »anlasslos unter Dauerüberwachung« zu stellen. Angesichts solcher Aussagen mag sich manch ohne jede Straffälligkeit dauerüberwachter Linker verwundert die Augen reiben.

Unterdessen wurde aus der Unionsfraktion im Bundestag am Freitag wieder einmal die Forderung nach mehr Personal und Befugnissen für den Inlandsgeheimdienst laut. Vizefraktionschef Thorsten Frei (CDU) geht es dabei vor allem um mehr Möglichkeiten bei der digitalen Überwachung.

Am Donnerstagabend versammelten sich unterdessen vor dem Dienstsitz Lübckes in Kassel rund 10 000 Menschen, um gegen rechte Gewalt zu demonstrieren. Dazu aufgerufen hatte die Stadt zusammen mit einem Bündnis von Institutionen und Organisationen. Der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) beteuerte: »Wir sind nicht der braune Sumpf der Nation. Wir sind friedlich, tolerant und weltoffen. Bei uns haben Hass, Hetze, Terror und Ausgrenzung keinen Platz.« Gerade nach der Verhaftung mutmaßlicher Unterstützer des Lübcke-Mörders war dessen Vernetzung in der nordhessischen Neonaziszene - und wohl auch im Terrornetzwerk NSU - überdeutlich geworden.