nd-aktuell.de / 22.08.2019 / Kultur / Seite 18

Watten, watten, mittem Rad?

»Interessant ist nur die Strecke«: Von Hamburg nach Berlin an einem Tag. Die Geschichte der Horst-Tomayer-Gedenkradfahrt

Fritz Tietz

Von Westberlin mit dem Fahrrad über die Fernstraße 5 bis zum BRD-Checkpoint Lauenburg - an einem Tag. Es war am 12. Oktober 1976, als der Dichter und Satiriker Horst »Hotte« Tomayer (1938-2013) die rund 270 Kilometer erstmals anging. Der Diensthabende am Grenzübergang Staaken staunte damals nicht schlecht über den seltenen Transitreisenden: »Watten, watten, mittem Rad?« Dass sein Ausruf Jahrzehnte später zum ebenso geflügelten wie beflügelnden Motto eines ganz besonders radsportlichen Ereignisses werden sollte, ahnte da noch niemand.

Der Ein-Tages-Takt seiner Tour war nicht nur einer Wirtshauslaune Tomayers entsprungen, sondern zwingend auch den Transitvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik geschuldet, die besagten, dass für West-Berliner, egal mit welchem Gefährt, eine Querung des DDR-Staatsgebietes bis spätestens Mitternacht erledigt sein musste; was Tomayer bei seiner Jungfernfahrt übrigens nicht schaffte. Er musste 20 Kilometer vor dem antifaschistischen Schutzwall bei Boizenburg völlig entkräftet aufgeben und stieg in den von seinem Kumpel, dem Karikaturisten und Fotografen Ernst Volland, gesteuerten Begleitwagen.

Anno 2005 hat sich Tomayer wieder auf den Fahrradweg der mittlerweile zur Bundesstraße umgewidmeten B 5 begeben, um es erneut in einem Rutsch von Hamburg, wo er mittlerweile lebte, nach Berlin zu versuchen. Obwohl die DDR nicht mehr existierte, tat er so, als würden ihre Transitbestimmungen noch gelten. Und siehe: Jetzt gelang ihm der mit der Etappe Hamburg-Lauenburg noch um 30 Kilometer längere Eintagesritt ohne Probleme. Sieben weitere solcher Hamburg-Berlin-Wallfahrten hat Tomayer in den darauffolgenden Jahren absolviert - und einige Male die Rückfahrt nach nur wenigen Stunden Berlin-Aufenthalt gleich mit. Die letzte Berlin-Tour erledigte der am 13. Dezember 2013 verstorbene Tomayer 73-jährig im Sommer 2012.

Zur Erinnerung an Tomayer hat die Redaktion der Zeitschrift »Konkret«, deren Hausdichter und Kolumnist der Radwallfahrer jahrzehntelang war, die Anregung einiger ihrer Leserinnen aufgegriffen und zur fortan jährlich stattfindenden Horst-Tomayer-Gedenkradfahrt aufgerufen. Nach den von 2014 bis 2018 absolvierten Touren steht dieses Jahr bereits die sechste Durchführung dieses weltweit wohl einzigartigen Dichtergedenkrituals an.

Wie genau eine Gedenkfahrt zu gestalten ist, sollte jede Teilnehmerin für sich entscheiden - das war ursprünglich mal die Idee. Hauptsache, so hieß es, es sind an den ausgelobten Wochenenden (mittlerweile hat man sich fest für das letzte im August entschieden) möglichst viele Radler und Radlerinnen zwischen Hamburg und Berlin unterwegs, um, mit wie vielen Streckenkilometern am Stück auch immer, Tomayer Respekt zu zollen. Zur einzig verpflichtenden Vorgabe wurde das Tour-Motto. »Watten, watten, mittem Rad?«, lautet es aus erwähnten historischen Gründen und ziert mittlerweile etlicher Teilnehmerinnen T-Shirts.

Im ersten Jahr ihres Bestehens hat es drei Gedenkfahrt-Varianten gegeben. Jochen Kleinhenz, der zuvor in zwei Tagesritten von seinem Wohnort Würzburg mittem Rad nach Hamburg geradelt war, schwang sich dort am frühen Samstagmorgen auf seinen Renner, um die 300 Kilometer nach Berlin bis zum Abend in einem Rutsch zu bewältigen. Am selbigen Samstag stiegen Michael Gremliza und Klaus Körner ebenfalls sehr früh samt ihren Rädern in den Zug nach Hitzacker, um von dort in zwei Etappen nach Berlin zu rollen. Tatsächlich beendeten die beiden ihre Fahrt am Sonntagabend planmäßig, nachdem sie bis zur Übernachtungsstation in Havelberg 126 Kilometer und am nächsten Tag bis Spandau 151 Kilometer vernichtet hatten. Jochen Kleinhenz aber brach seine Eintagestour, nachdem er zwischen Wittenberge und Havelberg zwei Stunden lang im extremen Dauerregen gefahren war, nach 230 Kilometern ab und nahm in Glöwen den Zug.

Die dritte Variante der ersten Gedenkradfahrt war die bereits am Freitag gestartete sogenannte Krückentour. Deren Teilnehmerinnen hatten sich von Anfang an eingestanden, dass sie die Gesamtstrecke, wenn überhaupt, nur in drei Tageshunderten zu bewältigen imstande sein würden - und schafften es dennoch nicht bis Berlin: Andreas Kahl stieg nach 107 Kilometern krankheitshalber vom Rad. Fritz Tietz und Marlene Voß fuhren nach der Übernachtung in Hitzacker noch gut 85 Kilometer bis Wittenberge - davon rund 20 Kilometer zwischen Dömitz und Lenzen im Verbund mit Jochen Kleinhenz. Als sie Wittenberge am frühen Abend erreichten, verfinsterten dunkle Regenwolken die noch vor ihnen liegenden 40 Kilometer. Nachdem sie sich dann auch noch ziemlich blöd verfahren hatten, beantragte Tietz, die Fahrt abzubrechen. Frau Voß stimmte, wenn auch widerwillig, zu.

Trotz der verpassten Zielvorgabe gleich im ersten Jahr hat sich die Krückentour inzwischen als die beständige Variante der Horst-Tomayer-Gedenkradfahrt etabliert. Während sie 2015 mit Marlene Voß und Fritz Tietz aus nur zwei Teilnehmerinnen bestand, die es aber dieses Mal »dank Super-Rückenwind« tatsächlich bis nach Berlin schafften, war das Fahrerfeld im Jahr darauf zeitweise sagenhafte sechs Mann stark. Arthur Hofhuis (auf Gazelle), Klaus Henning (Stevens), Hermann de München (Moulton) und Antek Freitag (No Name) hießen die vier Krückentourer (und ihre Maschinen), die die Strecke in Gänze bewältigten. Mit Fritz Tietz (TrengaDe) als sozusagen fünftem Rad der Viererbande kam es am Freitagmorgen in Hamburg zu einem regelrechten Massenstart des Pelotons. In das sich am Samstag Höhe Dömitz auch noch Alex Praetz einfädelte, um fortan auf seinem Single Speed (Staiger) bis Ortsschild Berlin ordentlich Pace zu machen. Tietz allerdings bog knapp 70 Kilometer vor Spandau an der legendären Kreuzung in Rhinow nach Rathenow ab, um von dort mittem Regionalexpress die Heimreise anzutreten. Sein vorzeitiges Aus wird seither als »Die Schmach von Rhinow« in den Annalen der Tour geführt.

Für die Gedenkfahrt 2017 konnte ein bisher nicht überbotener Teilnehmerrekord verbucht werden - und um es kurz zu machen: Alle sechs Mann (Ralf Hartmann, Klaus Henning, Arthur Hofhuis, Hans-Jürgen Ohr, Gerd von Overstraeten, Fritz Tietz) und auch die eine Frau (Marion Pollmanns) erreichten nach 340 Kilometern - trotz eines abschnittweise extrem starken Scheißgegenwinds - wohlbehalten Berlin.

Diese vierte aller Horst-Tomayer-Gedenkradfahrten ging auch deshalb in die Tourgeschichte ein, weil sie die erste war, die von einem Fahrer mit Pedelec bestritten wurde. Gerd von Overstraeten darf deshalb auf immer den Ehrentitel »Der Elektrische« führen. Deutlich bemäkelt werden musste auf dieser Tour die Verpflegungssituation im Übernachtungsort Garz, weil der Wirt der »Hafenkante«, der einzigen Speisegaststätte weit und breit, sich trotz rechtzeitiger Vorwarnung (»Da kommen noch welche, die Hunger haben!«) nicht erweichen ließ, den Radlern etwas aufzutischen. Eine Situation, die sehr an die Speisenverweigerungen erinnerten, wie sie Horst Tomayer bei seiner ersten Transitradfahrt 1976 in einigen DDR-Restaurants aushalten musste. Waren es damals polizeiliche Repressionen, die die Ostwirte vorgaben zu fürchten, schien es jetzt die an sich unbegreifliche Angst vor Umsatz zu sein.

Auch die fünfte Ausgabe der Hotte-Tour, wie sie mittlerweile liebevoll genannt wird, konnte mit einer bemerkenswerten Premiere aufwarten: Erstmals wurde die Strecke auf einem Cargo Bike absolviert, weshalb sich sein Fahrer Arthur Hofhuis fortan Erster Horst-Tomayer-Gedenk-Lastenradfahrer nennen darf. Wie eigentlich alle vorangegangenen verlief auch diese Krückentour ohne einen nennenswert nervigen Zwischenfall. Das Verhältnis zwischen den Pedalisten Hottes, Klaus Henning (bereits zum dritten Mal dabei), Arthur Hofhuis (dito), Antek Pistole (zweites Mal), Fritz Tietz (fünftes Mal) und Tourdebütant Jan aus Wismar, war einmal mehr geprägt von einer, man kann es nicht anders sagen, euphorischen Eintracht und fast schon kitschig anmutenden Harmonie. Man achtete aufeinander und übte sich in nicht nur windschattenspendender Solidarität.

Keine der bisherigen Gedenktouren wurde übrigens auf der Tomayer-Originalstrecke, also immer schnurstracks B 5, sondern auf erheblich lauschigeren und eindeutig auto- beziehungsweise dreckskarrenabträglicheren Wegen entlang Elbe und Havel bewältigt. Tietz und Voß hatten es 2015 etappenweise mal auf der Bundesstraße versucht, aber die zwischen Neustadt/Dosse und Friesack autobahnartig bebretterte Piste wegen ständiger Todesangst schnell wieder verlassen. Ein Rätsel, wie Tomayer diesen Irrsinn von Straße immer wieder unbeschadet überstehen konnte.

Vielleicht ist die Lösung in jener Losung zu finden, die der Fahrradphilosoph Tomayer bereits 1976 ins Wort erlöste und die hier sowieso nicht unzitiert bleiben sollte: »Interessant ist für dich nur eins: die Strecke. Darauf konzentrier dich! Die hast du vor dir, unter dir, und wenn dich der Wolf nicht reißt und dein Kreislauf nicht anfängt zu eiern, dann hast du sie am Sonnenuntergang, der nach dem Sonnenaufgang folgt, hinter dir.«

Also auf zur nächsten Horst-Tomayer-Gedenkradfahrt! Die Teilnehmer stehen bereits mit vor Anspannung zuckenden Wadenmuskeln an der roten Ampel und können es kaum erwarten, dass endlich Grün kommt. Aber an diesem Freitag können sie in die Pedale treten und endlich, endlich Strecke machen. Beherzte Mitfahrer und Mitfahrerinnen, die sich und ihren Karren die drei Hunderter zutrauen, sind mehr als willkommen.

Die Krückentour 2019 startet am Freitag, 23.8., gegen neun Uhr am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, unweit des Hauptbahnhofs. Die genaue Adresse des Treffpunkts lautet: Brockesstraße 1 (53°33'06.7»N 10°00’35.0«E). Die Krückentour ist keine geführte oder sonst wie zentral organisierte Veranstaltung. Jede und jeder fährt nach eigenem Gusto und auf eigenes Risiko. Weitere Infos sind über die Facebook-Gruppe »Die Horst-Tomayer-Gedenkradfahrt« einzuholen.

Offenlegung: Der hier mehrfach erwähnte Gedenkradfahrer Fritz Tietz ist mit dem Verfasser dieses Textes identisch.