nd-aktuell.de / 03.09.2019 / Berlin / Seite 9

Kaum Lohn und keine Alterssicherung

Die sogenannte Solo-Selbstständigkeit verspricht Freiheit, bietet aber oft nur schwierige Arbeitsverhältnisse

Jörg Meyer

Sie ist modern, sie verspricht Flexibilität und Freiheit: die sogenannte Solo-Selbstständigkeit. In diesem Bereich sehen wir gut ausgebildete kreative Köpfe und Clickworker*innen, Handwerker*innen und Haushaltshilfen, Pflegekräfte und Paketbot*innen. Doch sie verdienen oft wenig und haben keine ausreichende Alterssicherung. »Über zwölf Prozent arbeiten prekär, und zwar so prekär, dass sie weder einen ausreichenden Lebensunterhalt bestreiten noch ihre Altersvorsorge sichern können«, sagte die Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Elke Breitenbach (LINKE) am Montag.

In der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales stellte Breitenbach eine Expertise zu Solo-Selbstständigen in Berlin vor. Ergebnis: Elf Prozent aller Beschäftigten sind solo-selbstständig, insgesamt 191 200 Menschen in der Stadt. Berlin ist im Bundesländervergleich damit einsame Spitzenreiterin. »Das ist ein absolut urbanes Phänomen«, sagte Viveca Ansorge, Mitautorin der Expertise vom Team des senatsgeforderten Projekts »Joboption Berlin« der Beratungsgesellschaft ArbeitGestalten.

»Selbstständig« und »allein«, also ohne Beschäftigte sind die entscheidenden Merkmale für die Bezeichnung »Solo-Selbstständige«. Hintergründe für den Anstieg in diesem Feld sind die zunehmenden Auslagerungen von Dienstleistungen durch Unternehmen bereits seit den 1990er Jahren und die Liberalisierung der Handwerksordnung im Jahr 2004. Dazu kommt die Förderung der sogenannten ICH-AGs seit 2003. Mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze sollte über staatliche Förderung Erwerbslosen der Einstieg in den Arbeitsmarkt über die Selbstständigkeit erleichtert werden. Solo-Selbstständige und deren Situation waren in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Untersuchungen. Die nun vorgestellte Expertise ist die erste derartige Studie auf regionaler Ebene. Daten darüber, wie sich die Solo-Selbstständigkeit entwickelt hat und in welchen Branchen die Menschen tätig sind, waren bisher nicht öffentlich verfügbar, heißt es darin.

In den Ergebnissen spiegelt sich die Wirtschaftsstruktur der Stadt wider: Nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg kamen im Jahr 2017 von jedem erwirtschafteten Euro 85 Cent aus dem Dienstleistungssektor. Viele Solo-Selbstständige verrichten über Portale vermittelte Dienstleistungen. Berlin gilt hier als Testgebiet für die neuen, digitalen Arbeitsformen. »Viele der vermittelnden Online-Plattformen arbeiten nur mit Solo-Selbstständigen und umgehen damit Sozialbeiträge«, heißt es seitens des Arbeitssenats.

Lieber prekär, als gar kein Job

Breitenbach sieht diese Entwicklung kritisch: »Von denjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt nach Sozialgesetzbuch II (›Hartz IV‹) beantragen, geben rund 30 Prozent an, selbstständig zu sein.« Die Zahl derer, die von ihren Einkünften nicht leben kann, geschweige denn fürs Alter vorsorgt, dürfte aber noch höher sein, da nicht alle zum Amt gehen. Dem gegenüber stehe nach der guten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre ein aufnehmender Arbeitsmarkt, so Breitenbach weiter. Es werden also Leute gesucht.

Ein Grund, weshalb die Solo-Selbstständigkeit in den letzten Jahren so stark gestiegen ist, ist die steigende Unsicherheit. Viele Menschen entscheiden sich für die oft prekäre Arbeit, um der Erwerbslosigkeit zu entkommen.

Klar scheint aber, dass die Solo-Selbstständigkeit in vielen Fällen nur die zweite Wahl ist. Im europäischen Vergleich stieg liegt Deutschland bei der Gesamtzahl im Mittelfeld. Hiesige Arbeitnehmer*innen ziehen in der Masse die angestellte Arbeit und die damit einhergehende Sicherheit vor. Denn eines ist die Solo-Selbstständigkeit als stark wachsendes Phänomen in der sich verändernden Arbeitswelt auf jeden Fall: Die Verlagerung des unternehmerischen Risikos vom Unternehmen auf den und die Einzelne.