nd-aktuell.de / 21.09.2019 / Politik / Seite 4

Was mehr werden muss

Gibt es einen Wachstumszwang im Kapitalismus? Ein Klärungsversuch.

Stephan Kaufmann

Die Klimadebatte dreht sich um CO2-Steuern, Emissionszertifikate, Aufforstung und Investitionsprogramme, also um Instrumente des Klimaschutzes. Getrennt davon läuft eine Debatte grundsätzlicherer Art: Gibt es im herrschenden Wirtschaftssystem einen Wachstumszwang, und wenn ja, ist Klimaschutz damit vereinbar? Hier stehen sich zwei Lager gegenüber. Die einen kritisieren das Wachstum und stellen die Systemfrage. Die anderen mahnen mit dem FDP-Politiker Andreas Pinkwart »Wer Klimaschutz mit Kapitalismuskritik verwechselt, begeht einen gefährlichen Fehler.« Die Meinungsverschiedenheit gründet darin, dass die Beteiligten ganz unterschiedliche Ideen davon haben, in was für einem System wir überhaupt leben. Dazu ein Vorschlag zur Klärung.

Die Verteidiger und die Kritiker

Die meisten Politiker und Ökonomen sehen im Klimaschutz keine Systemfrage. Ökonomie und Ökologie seien vereinbar, heißt es, »wir brauchen die Wirtschaft an unserer Seite«, so Grünen-Politiker Cem Özdemir. Mit Äußerungen wie diesen setzen sie das herrschende Wirtschaftssystem in eins mit »der Wirtschaft« schlechthin, in deren Wachstum sie keinen prinzipiellen Widerspruch zum Klimaschutz entdecken können. Folglich halten sie die Senkung des CO2-Ausstoßes lediglich für eine Frage des politischen Willens, der sich gegen Partikularinteressen - Kohleindustrie, Autobauer - durchsetzen muss. Ihnen gegenüber stehen die Wachstumskritiker. Laut ihnen stecken »wir« in einer »Wachstumsfalle«, so die »taz«. »Massenproduktion und Massenkonsum« bescherten ein »ständig steigendes Lebensniveau«, doch das »ständige Streben nach Mehr stößt seit Jahren an ökologische Grenzen«. Der Philosoph Ulrich Roos fordert daher eine »Transformation unserer Lebensweise«, weg von der »immerwährenden Steigerung des materiellen Wohlstands«.

Wo der Zwang nicht herkommt

Freunde wie Gegner des Wachstums leisten sich allerdings eine folgenschwere Vermischung. Unter »Wirtschaftswachstum« fassen sie alles mögliche zusammen: Autos, Energie und Computer auf der einen Seite, Umsatz, Investitionen und Gewinn auf der anderen. Sie trennen nicht die stoffliche Ebene - die produzierten Dinge - von der finanziellen Ebene, wo nur das Geld zählt. Das Streben der Unternehmen nach Profit ist für sie letztlich das gleiche wie das Streben der Menschen nach mehr Konsumgütern. Beide gelten als »materieller Wohlstand«, der wachsen muss. Folge daraus ist die Erkenntnis, »die Menschheit« lebe über ihre ökologischen Verhältnisse.

Aus den Bedürfnissen der Menschen allerdings kann sich der Zwang zum Wachstum nicht ergeben. Selbst wenn man annimmt, dass diese Bedürfnisse prinzipiell grenzenlos sind, so bliebe ihre Befriedigung doch ein Akt des Willens: Jeder könnte verzichten, das Leben würde dadurch nicht enden, niemand braucht immer mehr Güter für seine Existenz. Der existierende Zwang zum Wachstum ergibt sich daher nicht aus der unersättlichen Natur des Menschen, sondern aus der Eigenart des herrschenden Wirtschaftssystems: Die Unternehmen brauchen immer mehr. Würden alle zum Wohle des Klimas verzichten, wäre eine ausgewachsene Wirtschaftskrise die Folge. »Deutsche Konjunktur lebt von der Konsumfreude«, meldet die Deutsche Bank.

Wo der Zwang herkommt

Ein kapitalistisches Unternehmen lebt von der Steigerung. Es investiert 1000 Euro, um 1500 Euro zurückzuerhalten. In der nächsten Runde investiert es die 1500, um 2000 Euro zurückzuerhalten. Und so weiter. »Kapital« ist keine Sache, es benennt eine Bewegung, die Verwertung einer Wertsumme. Eine Investition muss »sich rechnen«, muss »wirtschaftlich darstellbar sein«, wie es heißt. Das bedeutet, dass Produktion unter der Bedingung und damit zu dem Zweck stattfindet, Umsatz und Gewinn zu erhöhen. Das macht jene reicher, denen die Unternehmen gehören, woraus sich ihr Wille zum Wachstum ergibt, der tatsächlich grenzenlos ist. Denn es geht nur um Geld, und das ist rein quantitativ bestimmt und daher nie genug.

Der Zwang zum Wachstum wiederum ergibt sich aus der Art, wie die Unternehmen ihre Überschüsse erzielen: in der Konkurrenz. Theoretisch könnte ein Konzern wie Volkswagen sich dazu entscheiden, nicht länger zu wachsen, also Umsatz und Gewinn konstant zu halten. Abgesehen von der Frage, warum es das tun sollte - um Stagnation zu erreichen, müsste es sich mit den anderen Autoherstellern absprechen, sie müssten sich den Markt aufteilen.

Doch ist die Marktwirtschaft keine Planwirtschaft und die anderen Hersteller sind keine Partner, sondern Konkurrenten, die ihre Produkte verbessern, ihre Kosten senken, um sich gegen die anderen durchzusetzen. Mit immer kürzeren Innovationszyklen, immer neuen Verfahren der Rationalisierung versuchen sie, den anderen die Maßstäbe der Produktivität vorzugeben. Dafür brauchen sie immer größere Kapitalsummen - wer hier zurücksteckt, wer sich hier mit dem Erreichten zufrieden gibt, dem droht Schrumpfung, also Entwertung seines Kapitals, und damit die Pleite. In ihrer Konkurrenz zwingen sich die Unternehmen damit zu dem, was sie ohnehin wollen: Wachstum von Umsatz und Gewinn.

Dass Produktion nur stattfindet, wenn sie »sich rentiert«, wenn sie also einen bilanziellen Zuwachs zeitigt, bedeutet: Der maßgebliche Wohlstand im heutigen Wirtschaftssystem besteht nicht in den produzierten Gütern, sondern im Wachstum von Kapitalsummen, die sich in Luft auflösen, wenn dieses Wachstum ausbleibt. Daher gilt schon die 0,1 Prozent Schrumpfung der Wirtschaftsleistung im 2. Quartal als eine kleine Katastrophe, der Arbeitslosigkeit und sinkende Steuereinnahmen folgen können.

Geht »grünes« Wachstum?

Dieser Zwang zum Wachstum wird in der Klimadebatte einerseits als Hunger »der Menschen« nach immer mehr naturalisiert, ansonsten aber stillschweigend akzeptiert. Dass Kapitalwachstum nicht notwendig identisch ist mit dem Wachstum des Stoff-, Energie- und Umweltverbrauchs, machen sich die Vertreter eines »grünen« Wachstums zu Nutze und setzen auf Entkopplung: Die Unternehmen sollen weiter verdienen und expandieren, aber mit weniger CO2-Ausstoß, durch den Verkauf »grüner« Produkte und den Einsatz »sauberer« Produktionsverfahren. Zwar basiert der existierende Reichtum auf einer gigantischen Schädigung der Natur. Technologie und Innovation aber sollen gewährleisten, dass dieser Reichtum sich weiter reproduziert und vermehrt, aber ohne die ökologischen Konsequenzen.

Theoretisch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Hoffnung erfüllt. In der Praxis jedoch ergibt sich das Problem, dass Klimaschutz Kosten verursacht, und Kosten ein Konkurrenznachteil sind, sowohl für Unternehmen wie für Standorte. »Klimaschutz darf nicht der Wirtschaft schaden«, mahnt daher der zuständige Minister Peter Altmaier, der weiß, dass die Umwelt den Unternehmen als kostengünstige Rohstoffquelle und Schadstoffdeponie dient und dass Umweltschutz ihre Kalkulationen gefährdet. Zum Beispiel die der Autobauer. »Eine unbequeme Wahrheit lautet letztlich, dass die langfristigen Klimaschutzziele eigentlich nur durch deutlich weniger Verkehr erreicht werden können«, schreibt die Deutsche Bank.

Ob die große »Transformation« zu einem »grünen Kapitalismus« gelingt, ist daher völlig unklar und untersteht auch nicht der Kontrolle von Politikern und Unternehmern. Technisch ist der Klimaschutz zwar kein Rätsel. Das Problem ist jedoch, wie er profitabel gemacht werden kann. Ökonomen stellen zwar kühne Berechnungen an, wie sich Klimaschutz lohnen könnte. Sie versuchen auszurechnen, wie hoch ein CO2-Preis sein müsste, der den Unternehmen Kosten beschert, sie daher zu Innovationen anregt, die den CO2-Ausstoß auf das politisch gesetzte Maß senken und gleichzeitig die Produktion rentabler machen, wodurch Deutschland zur Klimatechnologie-Exportnation wird und die Wirtschaftsleistung steigt. Doch sind dies oft die gleichen Ökonomen, die eine Wirtschaftskrise nicht einmal erkennen, wenn sie vor der Tür steht. Umso spekulativer sind Projektionen über Jahrzehnte hinweg unter der Annahme revolutionärer Technologiesprünge, die noch gar nicht stattgefunden haben.

Die Realität besteht also nicht im Kampf »der Menschheit« um das Klima, sondern im Kampf der Standorte darum, wer die Kosten des Klimaschutzes zu tragen hat und wer die Früchte ernten wird. Diesem Kampf wird meist die Schuld dafür gegeben, dass es mit dem Klimaschutz kaum vorangeht. Doch spiegelt dieses politische Ringen lediglich die ökonomische Konkurrenz um Kosten und Erträge, um Anteile am Kapitalwachstum, das alle brauchen. Ob so das Klima »gerettet« wird, scheint derzeit eher unwahrscheinlich. Denn die sicheren Kosten und die unsicheren Erträge des Klimaschutzes führen stets dazu, dass bestenfalls nur das Nötigste unternommen wird - und vielleicht nicht einmal das. Der Klimawandel bleibt uns wohl erhalten.