nd-aktuell.de / 12.10.2019 / Politik / Seite 17

Herausforderung angenommen

Stephan Kaufmann sucht den Absender von Kummer und Leid

Stephan Kaufmann

Früher gab es Leid und Kummer, es gab Probleme, Schwierigkeiten und Hindernisse, es gab Konflikte und Not, Katastrophen und Verzweiflung. Heute gibt es Herausforderungen. Für die Bundesregierung ist die »große soziale, politische und wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb und auch zwischen verschiedenen Staaten eine der großen Herausforderungen unserer Zeit«. Der EU-Rat erkennt Klimawandel, Migration, Terrorismus, Digitalisierung als »interne und externe Herausforderungen«, und die Unternehmensberatung McKinsey nennt Armut eine »hartnäckige globale Herausforderung«.

Während die strategische Lage beim Boxkampf noch eindeutig ist - hier gibt es einen Herausforderer und einen Titelverteidiger, also einen Absender und einen Adressaten der Herausforderung - so ist im politischen Diskurs der Absender verschwunden: Es existiert kein Herausforderer mehr, nur noch die Herausforderung selbst, eine scheinbar subjekt- und interessenlose Notwendigkeit, der die Politik sich gegenüber sieht: Armut, Flucht, Klimawandel.

Auf diese Vorkommnisse beziehen sich Politiker nicht als Ergebnis ihres Tuns, sondern als eine gegebene Lage, auf ein ihnen von außen gestelltes Problem, zu dessen Lösung sie sich herausgefordert sehen. Dadurch lassen sie die Frage verschwinden, was die Politik zu diesen »Lagen« beigetragen hat. Der Verdacht, die EU habe etwas mit dem Klimawandel zu tun oder die Unternehmensberatung McKinsey mit der Armut, ist kaum von der Hand zu weisen. Doch soll derartig rückwärtsgewandte Ursachenforschung durch forsches Nach-vorne-Schauen ersetzt werden: Wir nehmen die Herausforderung an!

Auf diese Weise übernehmen Politiker zwar Verantwortung für die Probleme der Welt - aber nicht für deren Entstehung, nur für deren Lösung: Mit der Benennung von Herausforderungen erklären sie sich für zuständig und erteilen sich den Auftrag, die Situation zu bereinigen. Und dabei lassen sie sich von den Bevölkerungen ungerne stören.

Auf Weltwirtschaftsgipfeln und ähnlichen Treffen muten die Mächtigen der Welt es dem Publikum damit zu, sie erstens als Lenker des globalen Geschehens anzuerkennen, denen man Vertrauen schenken muss; in ihnen gleichzeitig aber unschuldige Betroffene einer gegebenen Lage zu sehen, für die sie nichts können, für deren Bereinigung sie aber drittens allein zuständig sind, da sie ja nun mal die Lenker des Geschehens sind und daher Vertrauen verdienen. Das ist schon eine Herausforderung.