Mit Tocotronic-Warnung auf den hohen Berg

Sachsens Grüne haben beschlossen, mit CDU und SPD erstmals über eine Regierungsbeteiligung zu verhandeln

  • Hendrik Lasch, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Gegen Ende werden die Klassiker zitiert. Fast fünf Stunden haben Sachsens Grüne in einem stickigen Saal im Umweltforschungszentrum in Leipzig gestritten, ob sie erstmals über die Beteiligung an einer Regierung verhandeln sollten. Da führt der Dresdner Stadtrat Michael Schmelich ein 2005 erschienenes Stück von Tocotronic in die Debatte ein: »Pure Vernunft«, hatte die Hamburger Band gesungen, »darf niemals siegen.«

Purer Vernunft, so scheint es manchem in der Partei, folgt das Vorhaben, mit CDU und SPD über eine Koalition zu reden; mit zwei »sehr strukturkonservativen Parteien«, wie der Landtagsabgeordnete Valentin Lippmann formuliert. Sie haben den Freistaat seit 2014 regiert, aber bei der Wahl am 1. September stark verloren. Eine Mehrheit gäbe es nun nur für zwei Konstellationen: ein Dreierbündnis unter Einschluss der Grünen, die mit 8,6 Prozent ein Rekordergebnis im Land erzielt haben - oder die erste Zusammenarbeit von CDU und AfD, sei es in einer offenen Koalition oder per Minderheitsregierung. Wenn sich die Grünen verweigerten, mahnt der in Dresden direkt gewählte Thomas Löser, stehe man da als diejenigen, die »der AfD die Möglichkeit einräumen, an die politische Macht in Sachsen zu kommen«.

Also haben sich die Grünen der Aufgabe gestellt und zunächst mit den beiden potenziellen Partnern sondiert. Der Parteitag am Samstag sollte entscheiden, ob das dabei ausgehandelte 13-seitige Papier Grundlage für formale Koalitionsverhandlungen sein kann. Gewählt wurde dafür ein denkwürdiger Ort. An gleicher Stelle entschied die Partei 2014 nach Sondierungen nur mit der CDU, die Gespräche zu beenden, weil es vor allem beim Thema Kohle keine Zugeständnisse gab. Die Spitzenkandidatin Antje Hermenau, erklärte Befürworterin von Schwarz-Grün, verkündete an Ort und Stelle ihren Abgang.

Diesmal lägen die Dinge anders, sagt Fraktionschef Wolfram Günther. Man habe »das erste Mal« einer CDU gegenübergesessen, die zuhören musste: »Das war für die eine Überwindung.« Herausgekommen ist nicht nur seiner Ansicht nach ein Papier, das Basis für weitere Verhandlungen sein könne: Landesvorstand und Landesrat hatten vorab empfohlen, weiter über eine Koalition zu reden - einstimmig, wie betont wurde. »Momentan«, sagt Spitzenkandidatin Katja Meier, »liest sich das alles sehr schön.«

Meier verweist zum Beleg darauf, dass sich etwa der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs bis 2030 verdoppeln soll: »absolut revolutionär«. Ex-Landeschef Jürgen Kasek lobt das angekündigte »Gesamtkonzept Rechtsextremismus« und hebt hervor, es sei nicht, wie sonst bei der CDU, im gleichen Atemzug von Linksextremismus die Rede. Jens Hausner aus dem vom Kohletagebau bedrohten Pödelwitz ist überglücklich über die Festlegung, das Dorf nicht abzubaggern.

Selbst jene, die das Papier in mühseligen Gesprächen ausgehandelt haben, treten freilich auf die Euphoriebremse. Noch liege »ein riesengroßer Berg« vor ihnen, sagt Meier: »Das wird ein steiniger Weg.« Der Energieexperte Gerd Lippold verweist auf einen Satz im Sondierungspapier, der an der grünen Basis für viel Diskussion gesorgt hatte: ein Bekenntnis, wonach »der Kohlekompromiss gilt«. Das sei eine »klare« Aussage, die »Überwindung auf beiden Seiten« gekostet habe - unter der aber, wie er hinzufügt, jeweils auch noch Verschiedenes verstanden werde. Die CDU hofft, dass die Kraftwerke im Lausitzer und Mitteldeutschen Revier bis 2038 laufen; die Grünen glauben, der Markt werde dafür sorgen, dass etwa 2030 Schluss ist.

Lippold jedenfalls geht davon aus, dass für einen in der Partei akzeptablen Koalitionsvertrag noch »deutliche grüne Korrekturen und Verschärfungen« notwendig seien. Auch Innenexperte Lippmann betont, man müsse etwa eine »Mauer« errichten, an der die »Wahnvorstellungen der CDU für mehr Bürgerrechtseingriffe abprallen«. Ob das allerdings gelingt - daran hat mancher sichtliche Zweifel. Bei vergleichbar schwierigen Verhandlungen in anderen Ländern, sagt die Leipzigerin Paula Piechotta, seien in Sondierungspapieren für die größten Streitfragen schon »Kompromisse skizziert worden«. In Sachsen wurde nur festgehalten, wo man uneins ist; die Liste ist sehr lang. Der Dresdner Stadtrat Johannes Lichdi gibt sich nicht überzeugt, dass die grünen Unterhändler hart genug verhandeln, um für einen Koalitionsvertrag mehr herauszuholen; viele schienen »von ihrer ›staatspolitischen Verantwortung‹ zu besoffen«. Die große Mehrheit sieht das jedoch anders: Sie erteilte am Ende das Mandat für Koalitionsverhandlungen. Nachdem zuvor auch die Gremien von CDU und SPD den Weg freigemacht hatten, können diese beginnen. Über einen Vertrag entscheidet die grüne Basis dann per Mitgliederentscheid.

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