nd-aktuell.de / 23.10.2019 / Kultur / Seite 8

Ein Mord, der keiner war

Fiktion und Realität in der DDR-»Aufarbeitung« - eine Medienkritik

Ulrich van der Heyden

Fiktion und Realität liegen bei der »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte so dicht beieinander, dass sich nunmehr einer der ersten »DDR-Geschichtsaufarbeiter«, Ilko-Sascha Kowalczuk, veranlasst sah, eine »Aufarbeitung« der bisherigen »Aufarbeitung« und einen Generationswechsel bei den »Aufarbeitern« einzufordern. Zunehmend wird von Wissenschaftlern gar einer Revision des in den letzten 30 Jahren kolportierten Geschichtsbildes über die DDR als notwendig erachtet.

Geboten ist die vor allem auch hinsichtlich des Einsatzes von Zehntausenden sogenannten Vertragsarbeitern in der DDR-Wirtschaft, oftmals unzutreffend, verkürzt, einseitig und unkundig dargestellt, in der Fachliteratur wie in der Öffentlichkeit zielgerichtet diskreditiert. Meinungsmanipulation, die gravierende politische Folgen zeitigt.

Es sei an dieser Stelle ein markantes Beispiel herausgegriffen, das vor Halb- und Unwahrheiten nur so strotzt. Vor einigen Monaten veröffentlichte der MDR eine Dokumentation, die in mehreren Varianten unter dem Titel »Schuld ohne Sühne« und »Schatten auf der Völkerfreundschaft« gesendet wurde. Es geht unter anderem um eine erfundene Story vom angeblichen Mord an dem mosambikanischen Vertragsarbeiter Manuel Diogo während einer Bahnfahrt gegen Ende der DDR.

In der TV-Sendung wird behauptet, dass der junge Mosambikaner von rechtsgerichteten Schlägern zusammengeschlagen und dann an den Beinen gefesselt aus dem Zug geworfen worden wäre. Statisten waren extra angeheuert worden, um diesen Fake staunenden Zuschauer glaubhafter zu machen. Die Filmemachern Christian Bergmann und Tom Fugmann konnten keinen Beleg für diese Gewalttat vorlegen. Keine Augen- und Ohrenzeugen aufbringen, kein Dokument. Ihr einziger »Zeuge« ist ein Mosambikaner, der gehört haben will, dass ein solches Verbrechen geschah. Reines Hörensagen also.

Jeder weiß: Was eine Person aus Erzählungen unbekannter Dritter erfahren haben will, ist kein stichhaltiger Beweis. Ein Staatsanwalt, der heute für den Fall zuständiger wäre und dem das Filmteam die Mordtheorie sozusagen in den Mund legen wollte, lehnte eine Neuaufnahme des Verfahrens nach eingehenden Überprüfungen der vorhandenen Akten ab. Die Journalisten waren sichtlich enttäuscht und spannen trotzdem trotzig und abenteuerlich ihren Faden weiter, geprägt von ihren ideologischen Vorurteilen gegenüber der ostdeutschen Vergangenheit.

Zum historischen Hintergrund: Gegen Ende der DDR lernten 16 000 junge Mosambikaner in der DDR einen Beruf mit anschließender mehrjähriger praktischer Berufserfahrung. Als in den letzten zwei/drei Jahren der Existenz des ostdeutschen Staates Arbeitskräfte aus verschiedensten Gründen - nicht nur aufgrund von »Republikflucht« und Ausreise - knapper wurden, waren ausländische Arbeiter aus der sogenannten Dritten Welt herzlich willkommen. Deren Ausbildung nahm nun zugunsten der festen Einbindung in den Produktionsprozess ab. Die mosambikanischen Regierung selbst war stark interessiert, da sie den vielen arbeitslosen Jugendlichen keine Perspektive bieten konnten. Zudem brachten die in der DDR arbeitenden Mosambikaner der Wirtschaft des armen südostafrikanischen Landes, gebeutelt noch von einem mörderischen Bürgerkrieg, etwas Geld ein. So stimmten also die Verantwortlichen in Maputo einer Verlängerung der staatlichen Verträge gerne zu. Das Angebot der DDR kann man aber durchaus auch als solidarischen Beitrag ansehen, wovon in der MDR-Sendung freilich keine Rede war.

Was ist wahr und was fiktiv an der Story von Bergmann/Fugmann? In der Tat kam ein mosambikanischer Vertragsarbeiter in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1986 während einer Eisenbahnfahrt im Bezirk Halle ums Leben. Trotz damaliger intensiver, akribischer polizeilicher Untersuchungen konnte jedoch kein Tötungsdelikt rechtsgerichteter Schläger festgestellt werden, es konnten auch keine Rechtsextremisten ausfindig gemacht werden, die sich laut der nachträglich erfundenen Geschichte in jenem Zug befunden haben sollen. Einen Mordvorwurf hatte damals niemand erhoben, weder die Kollegen des Getöteten noch Vertreter der mosambikanischen Botschaft oder sonst jemand.

Die kriminalistischen Untersuchungen hatten ergeben, dass der Mosambikaner Manuel Diogo vor seinem Tod »umfangreich Alkohol« zu sich genommen hatte und dann - wie einige andere Mosambikaner bestätigten - im Zug eingeschlafen sei. Die Deutung der Todesumstände lautete wie folgt: Diogo habe den Ausstieg auf dem Bahnhof - nicht zum ersten Mal - verfehlt und sei entweder beim Versuch abzuspringen tödlich verunglückt oder später beim unachtsamen Wandeln auf den Schienen von einem folgenden D-Zug erfasst, überrollt und mitgeschleift worden. Die ermittelnden Polizisten konstatierten: »Hinweise auf Auseinandersetzungen mit anderen Personen liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor.« Und: »Hinweise auf (eine) Straftat liegen nicht vor.« Für die Filmemacher offenbar kein Grund, nicht das Gegenteil, ausgeschmückt mit dramatisierten Trugbildern, zu behaupten. Nicht in Abrede sei hier gestellt, dass jeder gewaltsame Todesfall, auch nach über einem Vierteljahrhundert, neu untersucht werden kann und sollte - jedoch auf seriöse Art und Weise. Gründliches Recherchieren wie auch ein bisschen Verständnis für historische Vorgänge sollte man wohl voraussetzen dürfen.

Die dreiste MDR-Produktion, die das Bild vom »Unrechtsstaat« DDR verfestigen soll, wird auch in anderen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten gezeigt, zum Beispiel im 3 Sat. Das hat das Opfer nicht verdient. Das haben aber auch nicht die professionellen DDR-Ermittler verdient. Worauf stützen Bergmann/Fugmann ihre Anschuldigung, herzlose DDR-Bonzen hätten den angeblichen Mordfall unter den Tisch kehren wollen?

Es verwundert nicht, dass die reißerische Story von anderen Journalisten aufgegriffen wird, so Anfang August 2019 von der »Leipziger Volkszeitung« und von der »Mitteldeutschen Zeitung«. Traurig, dass dieser Fake sich nun per Interview mit dem Krimi-Autor Max Annas auch ins »neue deutschland« eingeschlichen hat, in der Ausgabe vom vergangenen Freitag. Seinen neuen Roman »Morduntersuchungskommission« baute Annas auf dem behaupteten Mord an Diogo auf. Das Buch soll laut Eigenwerbung des Verlags gar der »erste große Kriminalroman aus der DDR« sein - weil er »auf realen Tatsachen basiert«, wie er im nd-Interview behauptet?

Wer sich auch nur ein wenig mit der DDR-Wirklichkeit auskennt, hätte wissen müssen, dass die dort Herrschenden nichts mehr fürchteten, als wegen eines bi- oder internationalen Vorfalls an den Pranger gestellt zu werden. Die Einstellung einer Morduntersuchung hätte - so die anzunehmenden Angstvisionen der Verantwortlichen in Partei und Staat - bei Bekanntwerden zumindest diplomatische Folgen gehabt. Aber es brauchte nichts eingestellt zu werden, weil die wirklichen Ursachen für den Tod, wie dargelegt, aufgrund von gerichtsmedizinischen und kriminalistischen Untersuchungen bekannt waren.

Im Film des MDR wird ein Vertreter der vormaligen verbrecherisch agierenden RENAMO (Resistência Nacional Moçambicana) in Maputo kommentarlos interviewt, der eine Aufklärung des Todes »seines Landsmannes« fordert. Der Zuschauer erfährt nicht, dass die jungen in die DDR gekommenen Mosambikaner vor den brutalen Methoden ebendieser Organisation, die vom südafrikanischen Apartheidregime unterstützt worden war, geflohen sind - in die DDR. Um einen Beruf zu erlernen - und in Sicherheit zu leben. In der Manier des Boulevards schwenkt die Kamera auf die alte, noch heute trauernde Mutter des verunglückten Vertragsarbeiters - die natürlich in Tränen ausbricht, als man ihr mitteilt, dass ihr Sohn nicht bei einem Arbeitsunfall umgekommen sei, wie ihr die mosambikanische Botschaft in Berlin übermittelte, sondern von Neonazis in der DDR ermordet wurde.

Mit reißerischer Thematik hoffen Medien ein größeres Interesse beim Publikum zu erreichen. Und dies auf Kosten der Wahrheit. In diesem Fall auch auf Kosten der Erinnerung an Manuel Diogo und der ehemals ermittelnden Polizeibeamten. Und unterm Strich auf Kosten einer redlichen Geschichtsschreibung.

Der Autor ist Kolonialhistoriker, verfasste unter anderem zwei Bücher über mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR.