nd-aktuell.de / 29.10.2019 / Politik / Seite 2

Der Extremismus der Mitte holt aus

Einige bürgerliche Kommentatoren wollen ablenken statt analysieren

Sebastian Bähr

Wie ist die thüringische Landtagswahl zu interpretieren? Die ARD-Hauptstadtstudioleiterin Tina Hassel beklagte bei »Anne Will«, dass nun die »demokratische Mitte« keine Mehrheit mehr habe, weil »die Ränder« stark geworden sind - »links wie rechts«. Ähnlich äußerte sich der Psychologe und Extremismusforscher Ahmad Mansour: »Die Mehrheit der Wähler hat sich für den politischen Rand entschieden. Das ist Wahnsinn und sollte allen in dieser Republik, und vor allem den ehemaligen Volksparteien, ordentlich zu denken geben.« Der österreichische Journalist Thomas Mayer sah wiederum durch die Wahlen ein »doppeltes Vergangenheitsproblem« der Deutschen bestätigt.

Bei einem Teil der bürgerlichen und konservativen Öffentlichkeit stößt derzeit vor allem eine extremismustheoretische Deutung der thüringischen Landtagswahl auf Beliebtheit: Die angeschlagene »demokratische Mitte« werde demnach von kaum unterscheidbaren »extremistischen« beziehungsweise »populistischen« Positionen am linken und rechten »Rand« unter Druck gesetzt. In das selbe Horn tröten lautstark Vertreter von CDU und FDP.

Diese vom Verfassungsschutz entliehene Argumentation ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Die Gleichsetzung einer in der Praxis linkssozialdemokratischen mit einer teilweise offen völkischen und präfaschistischen Partei relativiert vor allem die Gefahr der letzteren. Die elementar unterschiedlichen Zielvorstellungen werden ausgeblendet, die Linkspartei wird trotz jahrelanger Regierungs- und Oppositionsverantwortung delegitimiert.

Gleichzeitig verdeckt diese Erzählung den Rassismus, Antisemitismus und die anderen Ungleichwertigkeitsideologien, die in allen gesellschaftlichen Milieus anzutreffen sind, aber von der AfD als politisches Projekt repräsentiert werden. Die Extremismustheorie scheint für so manchen Bürgerlichen und Konservativen eine willkommene Ablenkung, um sich nicht mit der eigenen Verantwortung für den Rechtsruck auseinandersetzen zu müssen. Einer Analyse autoritärer Entwicklungen und menschenfeindlicher Einstellungen steht sie letztlich im Weg.