nd-aktuell.de / 30.10.2019 / Kultur / Seite 15

Die niedliche Revolution

Das Ende der DDR als unendliche Geschichte: Das Performancestück «1989: The Great Disintegration»

Christof Meueler

Ich such die DDR und keiner weiß, wo sie ist … Ja, zwischen BRD und Polen, da wurde ein Land gestohlen«, sang 1991 die Ostberliner Punkband Feeling B. So kann man es natürlich auch ausdrücken. Bloß wer hat die DDR »gestohlen«? Sie hat sich doch selbst abgeschafft.

Die DDR wurde erst niederdemonstriert und dann abgewählt. »Geh doch nach drüben« war im Westen eine Beschimpfung, in der ganz späten DDR war es ein Traum. Als die meisten »drüben« waren, habituell zumindest, gab es für die DDR-Bewohner gar kein »drüben« mehr, es war das neue »hier«.

Man könnte sagen, der Westen wurde herbeigewünscht, wie im Märchen. War der Westen mehr als ein Märchen? Am Märchen ist nur wahr, dass es erfunden ist. Von solchen Erkenntnisproblemen handelt das Performance-Stück »1989: The Great Disintegration«. Am vergangenen Freitag hatte das Stück im Berliner Theater HAU 1 Premiere und wird bald auch in Frankfurt/Main und Mühlheim aufgeführt.

Es ist Trash, es ist Pop, es ist Psychologie, es ist Politik. Wenig Spiel, viel Vortrag und Text brutal, aber lustig und leidenschaftlich. Gespielt und geschrieben hat es die Gruppe andcompany & Co, zusammen mit Karsten Krampitz und Luise Meier, die auch auf der Bühne stehen. Krampitz ist Schriftsteller und Historiker und Meier Schauspielerin und Autorin des neomarxistischen Essaybuchs »MRX Maschine«.

Zuerst glaubte ich, das Stück hieße »Die niedliche Revolution«. Man hatte mir davon erzählt und ich hatte etwas falsch verstanden. Gut gepasst hätte der Titel aber schon. Denn das Stück vereint Kinderbuch und Weltpolitik, Jugenderinnerungen und Revolutionstheorie. Benannt ist es nach »Disintegration«, dem achten Album der britischen Düsterband The Cure. Die Platte erschien im Mai 1989, als auch die Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR begannen, die vom Staat schließlich nicht mehr gedeckelt werden konnten. Es war der Anfang vom Ende. Doch »man kann die Geschichte nicht von ihrem Ende her erzählen«, sagt Karsten Krampitz, der als »Chronist« das Geschehen auf der Bühne begleitet: »Denn die Geschichte ist nie zu Ende, auch nicht im Kommunismus!«

Vielleicht kann man die DDR nicht von ihrem Ende her erzählen, mit dem Autor Michael Ende aber schon. »Disintegration« basiert auf Motiven aus seinem Bestseller »Die unendliche Geschichte«. Handlung: Das Reich »Phantásien« ist in Gefahr, es droht sich im großen Nichts aufzulösen, wie damals die DDR, beziehungsweise der reale Sozialismus.

Auf der Bühne im HAU steht ein riesiger Kohlkopf (Gemüse), aus ihm spricht Helmut Kohl, der »Kanzler der Einheit« (kein Gemüse): »Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren«, legendäre Worte aus einer Regierungserklärung von 1993. Und dass sich »in allen Bereichen unserer Ökonomie« etwas ändern solle. Das tat es dann ja auch.

»Die unendliche Geschichte« erschien 1979. Es war ein ins Windelweiche abgekippter Eindeutschungsversuch von J. R. R. Tolkiens Fantasy-Klassiker »Herr der Ringe«. Das Buch warf vor allem die Frage auf, wie man aus seinen Fantasiewelten wieder rauskommt. Auf der Bühne leuchtet oben das Schild »Ausgang«. Man sieht aber die Rückseite, als wäre man schon durch. Ist man ja auch. Die BRD war der Ausgang aus der DDR. Und dann steht man da und wundert sich, dass der Kapitalismus fast genauso funktioniert, wie die SED ihn beschrieben hatte, als Ausbeutung von Mensch und Natur.

Doch es gab einen kurze Zeit, um den Mauerfall herum, als in der DDR viel möglich schien. Aber was? Zu Beginn von »The Great Disintegration« wird die Forderung »Fantasie vor Bürokratie« diskutiert, und zwar derart umständlich, dass diese Diskussion niemals zu einem Ergebnis kommen wird. Die berühmten Parolen »Wann, wenn nicht jetzt?«, »Wer, wenn nicht wir?« ersterben in Zeitlupe.

Die Diskutanten sind zum einen die »Nacktschnecke im Weinberg des Herrn«, angelehnt an die »Rennschnecke« von Michael Ende (und gespielt von Nicola Nord), und zum anderen das »Irrlicht« (Luise Meier), das komische Ideen äußert, aber kaum zu Wort kommt. »Das Irrlicht irrt und wieder nicht, denn einzig im Irren erfüllt es seine Pflicht«, spricht Krampitz, der in einem riesigen Überraschungsei sitzt und aus einem Buch vorliest, so ähnlich wie zur sogenannten Wendezeit Hans-Joachim Kulenkampff seine »Nachtgedanken« täglich zum Sendeschluss der ARD vortrug. Das war eine gemütliche Zeit, als sich das Fernsehprogramm noch täglich selbst ausschaltete.

Beim Sendeschluss der DDR war es anders; die gibt keine Ruhe, sondern funkt auch nach ihrem Ende immer noch weiter, als Phantomschmerz der Linken, als nicht zufriedenstellend begriffenes finales Desaster. »Durch ihr Ende ist die DDR unsterblich geworden«, meint Krampitz und ruft: »Wir brauchen einen Herrschaftsbegriff für das, was war!« Schon liegt er auf einem Operationstisch und schreit unter Schmerzen Begriffe wie »Unrechtsstaat«, »Staat der kleinen Leute!«, »Homunkulus sowjeticus!«, »Fürsorgediktatur!« und »Sportnation!«. Dabei werden die passenden Symbole auf Pappe aus ihm herausgeholt: Erich Honecker, Heiner Müller, Katarina Witt, der rote Stern und der Berliner Fernsehturm.

Mächtiger ist nur die Liebe, von der er später erzählt: »Meine erste große Liebe war Clara Schumann.« Denn sie war auf dem 100-DM-Schein abgebildet, der damals neu in Umlauf kam. Davon konnte man sich »eine Jeans kaufen oder eine Jeansjacke oder ein Jeanshemd oder eine Jeansmütze!« Melancholisch erklingt Techno von damals. Sonst ertönt meist sumsiges Georgel (Musik: Sascha Sulimma) und einmal, aber nur ganz kurz, Wolf Biermann.

Das einzig aktive Element gegen diese lähmenden Analysen und Sentimentalitäten ist eine Figur, die »Amanda Anfang« heißt (Amanda Heinau). »Man kann immer wieder neu beginnen«, ruft sie Krampitz zu, denn ein Ende ist auch ein Anfang, na ..., Sie wissen schon. Yin und Yang, gewissermaßen. So steht es auch geschrieben im Buch »MRX Maschine« von Luise Meier: Wenn der reale Sozialismus gestorben ist, dann sei der politische »Virus« wieder freigesetzt, dann gehe die Revolution leichter voran, keine Sorge. Allerdings sprachen derart schon in den 1990er-Jahren trotzkistische Gruppen, die sich als völlig unschuldig am Stalinismus präsentierten - und es passierte zehn Jahre überhaupt nichts.

Dennoch sollte man sich Folgendes merken: Die »Tricks des Kapitalismus sind schlecht«, wird in diesem Stück festgestellt, berechnend und durchschaubar, »höchstens auf dem Niveau eines mittleren Nachtclubs«. Der alte Plattentitel von The Cure, »Disintegration«, dagegen ist wieder populär: »Desintegriert euch!«, hatte der Berliner Schriftsteller Max Czollek in einem Essayband im vergangenen Jahr gefordert, um die »plurale Gesellschaft« gegen einen »positiven Nationalismus« zu verteidigen. Er plädierte für mehr »Unnormalität« statt braven Opportunismus und richtete sich dabei an Juden und auch an Moslems, die sich gegen die ihnen zugedachten Rollen in der deutschen Öffentlichkeit wehren sollten.

Besonders Juden sollten sich dem deutschen »Erinnerungstheater« verweigern, da sie dabei stets nur die Selbstzufriedenheit der Mehrheitsgesellschaft bestätigen würden. Desintegration »kann Ironie sein, wenn keine Ironie erwartet wird. Und es kann Wut sein, wenn Versöhnung und gemeinsames Erinnern auf dem Programm stehen«, schrieb Czollek.

Dieses Programm ließe sich auch auf das Erinnern an den Untergang der DDR und deren Folgen übertragen. In »The Great Disintegration« gründen Nacktschnecke, Irrlicht und Amanda eine Band, die im Vorprogramm von The Cure spielen soll. Sie heißt Big Reinfall und die Simulanten. Klingt behämmert, aber die hat es wirklich gegeben. Im Internet gibt es ein Video von 1990, in dem Teenager aus der ostdeutschen Gothic-Szene davon erzählen, während sie unter einer Brücke zur Musik vom Kassettenrekorder den 31. Geburtstag des Cure-Sängers Robert Smith feiern. Ergriffen und betrunken. Sie mögen keine »Bonzen« und »Scheinkommunisten«, doch abgesehen davon habe »man in der DDR nicht schlecht gelebt«, und »ein ehrlicher Honecker, der es wirklich so meint, wie er’s sagt, der wäre einwandfrei gewesen«, rufen sie in die Kamera.

»Einwandfrei«, »voll geil« echot es auf der Bühne, in einem Raumschiff, in dem Nacktschnecke, Irrlicht und Amanda zum Schluss von »The Great Disintegration« sitzen und so reden wie diese Jugendlichen, während sie im Kosmos rauchen. »Und geile Computer«, fällt ihnen noch zur Ideal-DDR ein, »und Krankenhäuser, die keinen abweisen«, »und nicht so viel Arbeit«. Eine Formel haben sie auch: »Ohne Frontex, Google, Mielke!« Einwandfrei, voll geil.

Nächste Vorstellungen: 21.11., 22.11. Frankfurt Main, Mousonturm; 7.12. Mühlheim/Ruhr, Ringlokschuppen.