Herzmassage gegen Hirntod

Kramp-Karrenbauer versucht sich beim Thema künftige Weltordnung - ohne »Abenteuer«?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Jubelfeiern zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit überlagern eine wichtige Erkenntnis: Nicht nur der Osten hat sich gewandelt, auch der Westen ist nicht mehr das, was er mal war. Die Welt zerfällt in verschiedene Machtzentren und bei aller Kraftmeierei der NATO ist sie bei der Neuordnung der Welt kaum gestaltungsfähig, denn: »Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO«. Drastischer, als es der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Interview für die britische Zeitschrift »The Economist« ausdrückte, kann man das Problem kaum benennen. Wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel Anfang Dezember in London, wo das Bündnis den 70. Jahrestag seiner Gründung feiern will, stellte er fest: Es gebe »keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten«. Das »unkoordinierte, aggressive« Vorgehen und die türkischen Alleingänge sind wohl nur ein Symptom des Niederganges. Aber Macron sah einen möglichen Ausweg. Er plädierte dafür, die Verteidigungsfähigkeiten Europas zu stärken.

Am Donnerstag ermunterte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die zugleich CDU-Chefin ist, die an der Bundeswehr-Universität in München Studierenden, »nicht nur Vorgegebenes auszuführen, sondern wirklich zu führen - und so die Zukunft zu formen«. Den Satz schrieb sie sich - nach allerlei ungekonnten Auftritten - nun wohl selbst ins Stammbuch und so sei eine Grundsatzrede zu erwarten, hatte es im Umfeld der Ministerin vor dem Münchner Auftritt geheißen.

Kramp-Karrenbauer sprach von »Zeiten des Umbruchs« und »der Ungewissheit«, in denen man merke, »es ändert sich etwas, aber das Neue hat noch keine Gestalt erhalten«.Und das in einer Welt, die wie viele sagen, »aus den Fugen geraten ist«. Und was kam nach der zutreffenden Zustandsbeschreibung von der Ministerin? Nicht etwa Vorschläge zu einer notwendigen und möglichen neuen Entspannungspolitik. Dabei zitierte sie den US-Präsidenten Barack Obama, der von seinen Mitarbeitern forderte: Bewundert nicht das Problem, sondern bietet Lösungen an! Das, so Kramp-Karrenbauer, sei es, »was die Bürgerinnen und Bürger von Politik erwarten«.

Deutschland leiste bereits jetzt »markante Beiträge«, auch bei Sicherheit und Verteidigung. Dennoch sagte die Verteidigungsministerin: »Ein Land unserer Größe und unserer wirtschaftlichen und technologischen Kraft, ein Land unserer geostrategischen Lage und mit unseren globalen Interessen, das kann nicht einfach nur am Rande stehen und zuschauen.« Sie kritisierte eine bislang von Deutschland geübte »Kultur der Zurückhaltung« und rief dazu auf, »mutiger zu handeln«, die »Rolle der Gestaltungsmacht anzunehmen« - freilich »tief verwurzelt im transatlantischen Bündnis und in der Europäischen Union«. Wichtig sei, dass Deutschland endlich »zu allen Fragen, die seine strategischen Interessen betreffen, eine Haltung« entwickele und Initiative ergreife, damit aus Haltung und Interesse Wirklichkeit werden könne. Dazu gehöre, »unseren gegenwärtigen sicherheitspolitischen Status quo zu hinterfragen«. Sie nannte die Sahel-Zone und zollte Frankreich Anerkennung für seinen dortigen Anti-Terror-Einsatz.

Die Ministerin sprach von »Solidarität« und davon, dass »unsere Partner im Indo-Pazifischen Raum« - allen voran Australien, Japan und Südkorea, aber auch Indien - sich von Chinas Machtanspruch zunehmend bedrängt fühlten. Es sei an der Zeit, dass Deutschland »mit unseren Verbündeten Präsenz in der Region zeigen«. Sie kündigte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020 Vorschläge zur Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit und des europäischen Arms innerhalb der NATO an. Dabei wolle man der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU einen strategischen Kompass geben«.

Kramp-Karrenbauer begrüßte die Idee eines nationalen Sicherheitsrates und sprach sich für eine »Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens der parlamentarischen Meinungsbildung« aus. Einen Tag vor ihrem Arbeitstreffen mit dem US-Außenminister Mike Pompeo sparte sie auch die strittige Frage »einer vernünftigen Entwicklung des Verteidigungshaushalts« nicht aus. Bis 2024 will Deutschland 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fürs Militär ausgeben und 2031 die geforderten zwei Prozent erreichen. Nicht, weil der US-Präsident - und andere - das fordern, sondern weil es »in unserem eigenen Sicherheitsinteresse ist«.

Es werde immer Krisen geben, »wir werden nicht jede Bedrohung ausschalten, nicht jedes zerrissene Land befrieden können«. Die Ministerin versprach aber: »Für Abenteuer war die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik nie zu haben. Das bleibt so.«

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