nd-aktuell.de / 07.12.2019 / Kultur / Seite 43

Wenn die Blumen sprechen könnten

Die Gedichte von Sherko Bekas

Irmtraud Gutschke

Versuchen Sie, diesem Gedicht namens »Sturmflut« einmal nachzulauschen:

»Die Flut sagte zum Fischer:/ Für das Toben meiner Wellen/ gibt es viele Gründe./ Der wichtigste davon ist,/ dass ich für die Freiheit der Fische/ und gegen das Netz bin.«

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Sherko Bekas: Geheimnisse der Nacht pflücken.[1] A. d. Kurd. v. Reingard u. Shirwan Mirza u. Renate Saljoghi. Unionsverlag, 95 S., geb., 18 €.

Die Meeresflut kann also sprechen, denken, sie hat Vorsätze und handelt entsprechend. Natürlich hat Sherko Bekas (1940-2013) das nicht wirklich angenommen. Auch nicht, dass eine Mohnblume einer Dornenblume die Hände küsst (»Verbeugung«), dass Wolke und Garten gute Vorsätze haben (»Das neue Jahr«), dass die Trauerweide ihr Haupt in den Schoß des Teiches legte, um eine Lerche zu retten (»Pappel«). Aber der Dichter dachte in solchen bildhaften Vergleichen und wusste, dass sie denjenigen nahegehen würden, für die seine Texte gedacht waren.

Der Schriftsteller Bachtyar Ali, von dem im Unionsverlag schon mehrere Romane erschienen sind, schreibt in seinem Vorwort zu diesen Gedichten, dass Bekas in sich keinen Frieden finden konnte, weil er in die Wirren hineingezogen wurde, unter denen seine Landsleute lebten, die Kurden in Nordirak. »Er wurde in die Politik und den Lauf der Geschichte hineingezwungen und war zeit seines Lebens ein Teil davon.«

Einige seiner Gedichte besingen den Euphrat, denn Bekas war wegen seines politischen Engagements für den kurdischen Widerstand in den Süden von Irak verbannt worden, wo er drei Jahre unter Hausarrest stand. Von 1987 bis 1992 lebte er im schwedischen Exil. Danach kehrte er zurück und war in der Autonomen Region Kurdistan sogar zeitweise Kulturminister.

Für »die Freiheit der Fische« und »gegen das Netz« - der Einzelne muss für Bekas frei sein. Eher in sich gekehrt, wie ihn Bachtyar Ali beschreibt, wusste er Kurden zu inspirieren, die in ihm den Dichter ihrer Nation sahen. Dabei habe er nicht nur Abschied von der klassisch traditionellen Dichtkunst genommen, er stellte sich auch »gegen den blinden Gehorsam in der Religion … und einige Mullahs sprachen eine Fatwa gegen ihn aus«.

Vor allem in Bekas’ Liebesgedichten spürt man sein Verlangen nach der Freiheit der Meinungen, des Körpers und des Gefühls. Wobei der Zauber noch in etwas anderem liegt. So sehr Bekas ein Neuerer war, so sehr klingt in seinem Werk doch eine Literaturtradition nach, die unter Jahrhunderten begraben ist: die mündliche Dichtung. Ali würdigt seine Kunst des Vortragens. Wenn Bekas das Geschriebene zu Gehör brachte, habe er sich gleichsam in einen anderen Menschen verwandelt.

Wortmagie: Dazu gehören die sprechenden Blumen, der leidende See. Die Natur ist beseelt. So haben es Bekas Vorfahren empfunden. Etwas fremd Vertrautes schenkt er uns. Lassen wir uns bezaubern.

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