nd-aktuell.de / 21.07.2007 / Wissen

Balance auf der Rasierklinge

Schon die geringste Änderung der Naturkonstanten hätte eine lebensfeindliche Welt zur Folge

Martin Koch
Was im Jahr 1952 geschah, ist in der Wissenschaftsgeschichte ohne Beispiel: Ein Literatur-Nobelpreisträger formulierte ein kosmologisches Prinzip noch vor den Experten. Die Rede ist von Thomas Mann, der in einem Vortrag seinerzeit erklärte: »In tiefster Seele hege ich die Vermutung, dass es sich bei jenem "Es werde", das aus dem Nichts den Kosmos hervorrief, und bei der Zeugung des Lebens aus dem anorganischen Sein auf den Menschen abgesehen war.« Heute sprechen Wissenschaftler, die Ähnliches mutmaßen, vom anthropischen Prinzip, dessen starke Version lautet: »Das Universum muss in seinen Gesetzen und in seinem Aufbau so beschaffen sein, dass es unweigerlich einen Beobachter hervorbringt.« In der Tat sind die fundamentalen Naturkonstanten derart fein austariert, dass bei einer Veränderung ihrer Werte eine gänzlich andere Welt entstünde. Wäre zum Beispiel die Gravitation im All etwas stärker, dann würde ein Stern wie unsere Sonne schon nach relativ kurzer Zeit ausbrennen und für eine biologische Evolution auf einem Planeten bliebe nicht genügend Zeit. Wäre die Gravitation hingegen etwas schwächer, könnten aus intergalaktischen Staub- und Gaswolken niemals stabile Sterne und damit auch keine Planeten wie die Erde entstehen. Ein anderes Beispiel: Protonen sind rund 1836-mal schwerer als Elektronen. Auch wenn diese Zahl nicht sonderlich aufregend erscheinen mag, beruhen darauf wichtige Eigenschaften der Atome und Moleküle. So garantiert das erwähnte Massenverhältnis, dass in der Natur lange Kettenmoleküle von der richtigen Art und Größe entstehen, um daraus biologische Strukturen zu formen. Bei der kleinsten Schwankung jener Verhältniszahl könnte sich etwa das Erbmolekül DNA nicht mehr vervielfältigen. Keine Frage also, unsere biologische Existenz hängt von den Naturkonstanten ab. Daher sind viele Wissenschaftler brennend an der Frage interessiert, ob die Werte dieser Konstanten sich womöglich mit der Zeit verändern. Vor einem Jahr erst hatten europäische Physiker Hinweise darauf gefunden, dass die Masse des Protons im Verhältnis zu der des Elektrons in den letzten 12 Milliarden Jahren kleiner geworden ist. Eine australische Forschergruppe hat diesen Befund jetzt revidiert. Bei der Analyse des Lichts ferner Galaxien stellten Victor Flambaum und seine Kollegen von der University of New South Wales in Sydney zumindest für die vergangenen 6,2 Milliarden Jahre keine Veränderung des Proton-Elektron-Massenverhältnisses fest. Nun gut, könnte man einwenden, da steht Aussage gegen Aussage. Dem ist jedoch nicht so. Denn wie die australischen Forscher im Fachjournal »Physical Review Letters« (Bd. 98, Nr. 240801) mitteilen, sei ihre Messung zehnmal genauer ausgefallen als die ihrer europäischen Kollegen. Ein ähnliches Hin und Her hat es vor Jahren auch bei der Untersuchung anderer Naturkonstanten gegeben. Namentlich die sogenannte Feinstrukturkonstante, die die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung bestimmt, stand mehrmals im Verdacht, mit der Zeit geringfügig zuzulegen. Wäre das tatsächlich so, würden in ferner Zukunft alle Atome in sich zusammenfallen, und es gäbe keine Materie mehr. Aber auch hier deutet nach neueren Messungen alles darauf hin, dass sich die elektromagnetische Kraft seit dem Urknall nicht verändert hat. Wie in jedem Physiklexikon nachzulesen ist, beträgt der Wert der Feinstrukturkonstante 1/137. Nehmen wir einmal an, er wäre etwas kleiner, zum Beispiel 1/150. Die Folge: Im Universum hätten sich niemals Kohlenstoffatome bilden können, die für das Leben in der uns bekannten Form unverzichtbar sind. Liegt nicht hierin eine glänzende Bestätigung des anthropischen Prinzips? Der britische Astrophysiker Joseph Silk verneint diese Frage. Denn aus Experimenten ergibt sich für die Feinstrukturkonstante streng genommen der Wert 1/137,03599911. Eine solche Genauigkeit sei mit anthropischer Logik nicht vereinbar, meint Silk. Daher müsse es eine andere Erklärung für den Wert der Feinstrukturkonstante geben. Tatsächlich besteht die große Schwäche des anthropischen Prinzips darin, dass es die Welt teleologisch, sprich vom Ergebnis her interpretiert und keine experimentell nachprüfbaren Voraussagen erlaubt. Warum die Werte der Naturkonstanten so sind, wie sie sind, lässt sich aus dem anthropischen Prinzip nicht ableiten. Und manche physikalischen Parameter stehen dazu sogar im Widerspruch. Ein Beispiel: Protonen existieren mindestens 10 hoch 32 Jahre, ehe sie zerfallen. Das geht aus verschiedenen Experimenten hervor. Um jedoch die Existenz von Leben zu ermöglichen, bräuchte das Proton nicht älter zu werden als 10 hoch 16 Jahre. Kaum ein Physiker zweifelt heute daran, dass die Naturkonstanten vom Prinzip her auch andere Werte haben könnten. Heißt das nun, um Gottfried Wilhelm Leibniz zu zitieren, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist? Zumindest bezogen auf ihr Potenzial, intelligentes Leben hervorzubringen, sei diese Frage wohl zu bejahen, sagt Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg, der zugleich für eine radikale Lösung des anthropischen Problems plädiert. Danach haben die Naturkonstanten in verschiedenen Teilen des Universums verschiedene Werte. Und nur zufällig kommt es irgendwo zu einer für die Entwicklung des Lebens günstigen Konstellation - wie auf der Erde, die gleichsam eine Insel darstellt in einem weitgehend lebensfeindlichen Universum. Folglich befindet sich jeder, der die Naturkonstanten misst und somit das »anthropische Wunder« registriert, per definitionem auf einer Lebensinsel im All, während ihm alle anderen Bereiche des Universums verschlossen bleiben.