nd-aktuell.de / 17.01.2020 / Berlin / Seite 10

Ausgegrenzt und attackiert

In Lichtenberg werden immer mehr Menschen angegriffen, die auf der Straße leben

Marie Frank

Die Obdachlosen, die auf dem Vorplatz des Bahnhofs Lichtenberg[1] leben, werden zunächst nicht vertrieben. Sicher sind sie deswegen aber noch lange nicht. Die Deutsche Bahn wollte das Camp kurz vor Weihnachten nach Beschwerden von Anwohner*innen räumen lassen - man wolle dort Fahrradständer bauen, hieß es - der Bezirk konnte dies in letzter Minute verhindern und handelte eine Schonfrist bis Ende Januar aus. Wohin die Menschen danach gehen können, wollte Bezirksbürgermeister Michael Grunst (LINKE) am Donnerstag nicht verraten. Klar ist jedoch: Lichtenberg hat ein Problem mit Obdachlosenfeindlichkeit.

»Ich erlebe eine zunehmende Verrohung der Sprache gegenüber Obdachlosen«, so Grunst. Über 60 Beschwerden seien im vergangenen Jahr bei ihm eingegangen, viele davon mit eindeutigem sozialchauvinistischem Inhalt. »Bei 20 Prozent davon bleibt einem die Luft weg. Das ist wirklich erschütternd«, berichtet der LINKE-Politiker. »Die Zivilgesellschaft darf in ihrer Solidarität mit den Betroffenen nicht zurückweichen«, mahnt er mit Blick auf das Lichtenberger Register, deren vorläufigen Ergebnisse für das vergangene Jahr am Donnerstag vorgestellt wurden.

Die Dokumentation von rassistischen, antisemitischen, LGBTIQ*-feindlichen, und anderen diskriminierenden Vorfällen, die sich in dem Bezirk ereignen, erfasst für 2019 einen Anstieg der Vorfälle um fast 15 Prozent. Erfasst werden Angriffe, Bedrohungen, Propaganda und Sachbeschädigungen, die dem Register gemeldet werden oder in der Polizeistatistik auftauchen. Demnach gab es in Lichtenberg im vergangenen Jahr pro Monat durchschnittlich zwei Angriffe und fast drei Bedrohungen. Als Grund für den Anstieg nennt Michael Mallé von der Fachstelle Lichtblicke, bei der das Register angesiedelt ist, vor allem Neonazi-Aktivitäten im Europa-Wahlkampf sowie eine höhere Meldebereitschaft.

»Die meisten Vorfälle sind rassistisch motiviert«, sagte Mallé. So war im Februar vergangenen Jahres etwa ein 14-jähriges Mädchen im Ortsteil Rummelsburg von einem 32-Jährigen rassistisch beleidigt und in die Rippen geboxt worden. Die 14-Jährige wurde von Polizist*innen auf dem Gehweg liegend aufgefunden und musste im Krankenhaus behandelt werden.

Einen starken Anstieg der Vorfälle gab es vor allem in den Bereichen Antisemitismus und LGBTIQ*-Feindlichkeit (siehe Kasten). Zuletzt hatte im Dezember ein homofeindlicher Angriff auf zwei junge Frauen, die sich geküsst hatten, für Schlagzeilen gesorgt. In Hohenschönhausen hatte ein Mann aus einer Gruppe heraus eine 19-Jährige zu Boden gestoßen und ihr mehrfach ins Gesicht getreten. Auch ihrer 18-jährigen Begleiterin schlug er mehrmals ins Gesicht.

Bezirksbürgermeister Michael Grunst zeigt sich angesichts der Zahlen erschrocken: »Die Ewiggestrigen und Menschenfeinde sind eine Schande für unseren Bezirk.« Trotz aller Bemühungen von Politik und Zivilgesellschaft habe der Anstieg der Zahlen nicht verhindert werden können, bedauert Grunst. Noch in diesem Jahr will der Bezirk einen Antisemitismus- und einen Diversity-Beauftragten einrichten.

Die endgültigen Zahlen für das vergangene Jahr werden zusammen mit den Registerstellen aus den anderen Bezirken im März vorgestellt. Mallé ermuntert alle Betroffenen, Vorfälle zu melden und zur Anzeige zu bringen. Im Fall der Obdachlosenfeindlichkeit hätten sich etwa nur Zeugen und Hilfsorganisationen an die Registerstelle gewandt, nicht jedoch die Betroffenen selbst. Dadurch hätten nur wenige Fälle erfasst werden können, es sei davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weit höher liegt. Das bestätigt auch der Bezirksbürgermeister: »Man muss sich bloß an den Bahnhof Lichtenberg setzen. Was Sie da erleben, sprengt jede Statistik.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1127313.sozialarbeit-der-brennpunktentschaerfer.html